Schöne Bescherung: Eine deutsche Mittelstadt von knapp einer Viertelmillion Einwohnern; zwei große sinfonische Orchester in städtischer Trägerschaft, also ohne Bindung an den Rundfunk oder eine andere Institution; zwei konkurrierende Konzertreihen im gleichen Saal; 172 Orchestermusiker in städtischen Diensten – eine kulturpolitisch zweifelhafte und aberwitzige Situation, die selbst in wirtschaftlich besseren Zeiten nach einer Korrektur gerufen hätte.
Wie es zu dieser Situation gekommen ist, ist nur aus der älteren und jüngeren musikalischen Historie der Stadt zu erklären. Traditionsalt, doch wechselhaft bis zum völligen Verstummen gar ist die Konzert- und Operngeschichte der Stadt gewesen. Als August Hermann Francke und die Pietisten das Regiment in der preußisch gewordenen Stadt übernahmen, wurde für fast ein ganzes Jahrhundert ein Theaterverbot durchgesetzt. Das weltliche Musikleben reduzierte sich auf ein akademisches Kollegium musicum, das Konzerte für Professoren und Studenten veranstaltete und auch mit städtischen Chören zusammenarbeitete. Erst im 19. Jahrhundert wurde ein neues Theater eröffnet und ein Stadtorchester von 30 Musikern gebildet, das wöchentliche Konzerte gab und den Operndienst versah.
Im frühen 20. Jahrhundert begann dann eine Blütezeit des hallensischen Musiklebens. Die Musiker des Stadttheaters taten sich mit dem Musikcorps des Magdeburgischen Füsilier-Regiments Nr. 36 zusammen, spielten allabendlich Oper und sechs Sinfoniekonzerte im Jahr. Die Zusammenarbeit mit den damals allgemein auf hohem technischen Stand stehenden Militärmusikern (in vielen deutschen Städten vor dem Ersten Weltkrieg bei der Aufführung großer Opern und des romantischen Konzertrepertoires üblich) war künstlerisch überaus ertragreich. Etwa 90 Musiker standen in dem Verbund zusammen; Dirigenten wie Arthur Nikisch, Felix Mottl, Richard Strauss, Siegfried Wagner und Felix Weingartner prägten die sinfonischen Programme.
Tradition des hohen Anspruchs
Diese Tradition des hohen Anspruchs setzte sich in den folgenden Jahrzehnten über alle politischen Brüche hin fort. Bruno Vondenhoff, der spätere Leiter des Frankfurter Museums-orchesters, wurde 1934 zum ersten Generalmusikdirektor in Halle berufen. Nach dem Kriege verband sich der Name der Stadt bald mit dem größten Musiker ihrer Geschichte. Die Händel-Festspiele, von Orchesterchef Horst-Tanu Margraf ins Leben gerufen und viele Jahre geleitet, trugen durch regelmäßige Gastspiele auch jenseits des Eisernen Vorhangs den Namen Halles in die musikalische Welt. Die Wiederentdeckung des Opernkomponisten Händel, von dem kaum mehr noch als der „Xerxes“ bekannt war, in seiner ganzen Vielfalt und Breite ist ohne die Aktivitäten Margrafs und seiner Nachfolger kaum vorstellbar. Sie fand dann ihre Fortsetzung mit der Hinwendung zu historischer Aufführungspraxis und zu historischem Instrumentarium, besonders unter Christian Kluttig und, nach der Wende, Howard Arman. Innerhalb des „Orchesters des Opernhauses Halle“, wie es seit 1992 hieß, bildete sich mit dem Händelfestspielorchester ein Ensemble, das sich der Pflege der Alten Musik mit alten Instrumenten verschrieb. Es trägt bis heute die Händelfestspiele, die in diesem Jahre neben einer Reihe von Konzerten Aufführungen von „Admeto“ und „Rosalinda“ angekündigt haben.
Das „zweite“ Orchester der Stadt, das über manche Perioden hinweg das eigentlich erste wurde, war eine Nachkriegsgründung, als Volksorchester 1946 von Arthur Bohnhardt gebildet, der mit den SED-Kulturpolitikern bald in Konflikt geriet und nach drei Jahren nach West-Berlin fliehen musste. Das Orchester sollte zum „Mittler werstvollsten Kulturguts gegenüber der Werktätigen“werden. Die Dirigenten und die Namen des stetig wachsenden Klangkörpers wechselten, bis unmittelbar nach der Wende der aktiv-umtriebige Heribert Beissel Chefdirigent wurde und große Orchester-Tourneen initiierte, die in viele europäische Länder und bis nach Japan und Südamerika führten. Das Philharmonische Staatsorchester, so hieß es nun, fand Akzeptanz in der Stadt und wurde darüber hinaus auch für renommierte Dirigenten interessant, für Bernhard Klee, Wolf-Dieter Hauschild und Heribert Esser, die nacheinander Chefs der Philharmonie waren; für Hartmut Haenchen, der schon in jungen Jahren an der Saale gearbeitet hatte und nun eine enge Verbindung mit Halle einging, die bis zum heutigen Tage besteht. So präsentiert er in der laufenden Saison die ersten drei Mahler-Sinfonien.
Keine feindliche Übernahme, sondern ein Neuanfang
Zwei große Orchester also in Halle an der Saale, eines zu viel nach allen vernünftigen Abwägungen. Was also tun? Schöne, nun wahrhaft schöne Bescherung im Jahre 2006: Die verantwortlichen Politiker in Stadt und Land finden zu einer Lösung, die in einen völligen Neuanfang mündet. Keine Auflösung eines Orchesters, keine „feindliche Übernahme“ des einen durch das andere, sondern Gründung eines neuen Klangkörpers, sekundiert von der Verpflichtung eines neuen, quasi „neutralen“ Orchesterdirektors, der mit keiner der alten Formationen etwas zu tun hatte. Gefunden wurde er in Robert König, dem langjährigen Orchestervorstand und Geiger des Bayreuther Festspielorchesters und der Kieler Philharmoniker, der zuletzt in Seoul eines der Orchester in der koreanischen Hauptstadt betreut hatte.
Auch in der künstlerischen Leitung wurde ein entschiedener Schnitt gemacht. Zum Nachfolger von Roger Epple hier und Heribert Esser dort wurde auf ausdrücklichen Wunsch des Orchesters Klaus Weise berufen, der damit nach langen Jahren im Ausland wieder fest nach Deutschland zurückgekehrt ist. Weise hat in den vorangegangenen beiden Spielzeiten schon häufiger im Opernhaus und im Konzert in Halle dirigiert und mit seiner energiebesessenen Vitalität Musiker wie Publikum gefesselt. Er trägt den Titel „Generalmusikdirektor der Stadt Halle“. Eine korrekte Bezeichnung, denn Rechtsträger der Staatskapelle Halle, so heißt das neugegründete Orchester jetzt, ist die Stadt.
Das Land Sachsen-Anhalt trägt, Ergebnis fairer Verhandlungen zwischen Stadt und Land, 49 Prozent der öffentlichen Zuwendungen – ein Verteilerschlüssel, der Bestand haben soll auf Dauer, wobei Sachsen-Anhalt einige Vorgaben gemacht hat; so etwa mehr Konzerte im Lande, wo es feste Sinfonieorchester sonst nur noch in Magdeburg, Dessau und Sondershausen gibt; weiter die Repräsentation des Bundeslandes im gesamten Deutschland und im Ausland und schließlich besondere Aktivitäten für die Jugend und für Kinder.
Einiges davon ist natürlich nicht neu und wird schon in der laufenden ersten Spielzeit des neuen Orchesters intensiviert und auch in der Programmgestaltung auf eine breitere Basis gestellt. So wird Weise in Merseburg, Köthen und Stendal das dortige Publikum erstmals mit Charles Ives bekannt machen. Höhepunkte im kommenden Tourneeprogramm sind zwei Konzerte im Großen Festspielhaus in Salzburg, in Zürich, Berlin, eine Spanien-Tournee, drei Konzerte in Korea sowie die „Zauberflöte“ beim kommenden Mozartfest im Rokokotheater Schwetzingen.
Bewährte Traditionen werden daneben fortgeführt, selbstverständlich die Hinwendung zu Händel in allen möglichen Facetten, von der Kammermusik bis zu den großen Oratorien und zur Oper, bei den Festspielen ebenso wie im musikalischen Alltag des Jahreslaufes. Daneben hat, nicht nur im abgelaufenen Jubiläumsjahr, Mozart in der Händelstadt eine besondere Heimstatt gefunden, in der Oper in der arkadischen Idylle des Goethe-Theaters Bad Lauchstädt, wo seine sieben gro-ßen Opern im Repertoire stehen, in den normalen Programmen natürlich und mit einem von Weise eingerichteten Zyklus „Mozart in Halle“, in dem Peter Sodann, der mitteldeutsche Kommissar des Tatortes, in jedem Programm aus Briefen von Mozart gelesen hat.
Ein Problem bleibt natürlich. Die neue Staatskapelle hat zu viele Musiker. Im Jahre 2003 zählten die beiden städtischen Orchester 172 Mitglieder. Die neue Staatskapelle umfasst nach einigen Abgängen noch 152 Musiker und ist damit jetzt nach dem Leipziger Gewandhaus das zweitgrößte deutsche Orchester.
Der derzeitig gültige Haustarifvertrag, in dem die Musiker auf einige Leistungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld verzichten und betriebsbedingte Kündigungen bis zum Sommer 2008 nicht möglich sind, sollte nach der zunächst sehr großzügigen Vorgabe der Stadt bis zum Ende der Spielzeit 2010/11 auf 130 reduziert werden. Inzwischen hat sich die Haushaltslage der Stadt so dramatisch verschlechtert, dass sie die Zwangsverwaltung durch das Land fürchten muss. Sie möchte so früh wie möglich die Orchesterstärke auf 105 begrenzen. Ob und wie das erreicht werden kann, wobei es ohnehin nicht ohne Abfindungen oder andere Angebote gehen wird, ist noch nicht eindeutig klar; dass längerfristig das Orchester noch um weitere Stellen reduziert werden muss, dagegen schon.
Ü ber allen nackten Zahlenspielereien bei der Frage der Orchestergröße darf natürlich die künstlerische Seite nicht vergessen werden. Schon heute sind die Proportionen der Instrumentengruppen untereinander nicht mehr ganz homogen. Die Wahrung sozialer Besitzstände einzelner Musiker kann für die Kriterien bei der Zusammensetzung des Orchesters nicht allein entscheidend sein. Auch die Neueinstellung begabter junger Musiker darf natürlich nicht tabu sein, will man den künstlerischen Standard des Orchesters halten und, das hat man sich ja vorgenommen, weiter entscheidend steigern. So hat man derzeit gegen den generellen Einstellungsstopp der Stadt anzukämpfen.
Philharmoniker im Graben
Vorbehalte einzelner weniger Musiker wie der, dass es ihnen, die aus dem Konzertorchester der Philharmonie kommen, nicht zuzumuten sei, „im Graben zu spielen“, sind inzwischen überwunden. Aber einige jüngere ausländische Musiker, die nie zuvor Oper gespielt hatten, tun sich ohne Erfahrung und Repertoire-Kenntnisse schwer damit, ohne Proben in eine laufende Aufführung hineinzuspringen, wie es im deutschen Opernbetrieb in der Regel verlangt und ohne Schwierigkeiten geleistet wird.
Ein höheres Ziel bleibt, der aus zwei Orchestern zusammengeschweißten Staatskapelle ein eigenes Profil zu geben, eine unverwechselbare Handschrift in Klang und Ausdruck. Daran wird mit zunehmendem Glück von Konzert zu Konzert gearbeitet, und jüngst hat mit seiner hochespressiven Innenspannung und in seinen farblichen Valeurs der neue „Rosenkavalier“ unter Weise gezeigt, dass man dem Ziel, nicht nur der Zahl nach noch eines der ersten Orchester der Republik zu sein, schon recht nahe gekommen ist.