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Befreiung zu neuem Hören

Untertitel
Ein lesenswerter Band über Neue Musik in der Gehörbildung
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Die oft beklagte Scheu vieler Musiktheoretiker gegenüber der Neuen Musik hat an etlichen Ausbildungsinstituten zu einer eher konservativen Ausrichtung in den Bereichen Harmonielehre und vor allem Gehörbildung geführt. Warum und auf welchen Wegen man dies ändern kann und welche Nachdrücklichkeit gerade die Schulung der Fähigkeit und Bereitschaft zum Hören verdient, erfährt man aus dem lesenswerten Buch „Ganz Ohr? Neue Musik in der Gehörbildung“. Eine Gruppe von Zürcher Musiktheoretikern erläutert darin auf sinnfällige Weise Strategien und Konzepte einer Einbeziehung jenes Feldes der Musik des 20./21. Jahrhunderts, das von manchen Vertretern des Faches schlichtweg ignoriert wird – vermutlich weil diese Dimension in ihrer eigenen Ausbildung nur ein Schattendasein erlebt hat und daher, leider typisch für viele Musik(hoch)schulen, ein Umdenken außerhalb des Vorstellungsvermögens liegt.

Der entscheidende Ausgangspunkt der Publikation – von Felix Baumann im einleitenden Essay mit Blick auf Überlegungen vor allem von Cage, Nono, Lachenmann, R. Murray Schafer und Peter Ablinger erörtert – besteht in der Einsicht, dass neue Hör-Erfahrungen den Menschen in einer ganzheitlichen und existentiellen Weise berühren können. Der Begriff des Neuen wird hier wie auch in den folgenden Beiträgen in wohltuender Weise nicht im Horizont der Moderne-Ideologie beziehungsweise Moderne-Kritik verstanden, sondern mit Blick auf die schon bei Kindern bemerkbare Neigung, Neues lernen zu wollen, auf der sich, und das ist entscheidend, auch im Umgang mit Erwachsenen aufbauen lässt. Hierzu gehört das Wissen darum, dass es tiefe Hör-Erfahrungen weit jenseits jener herkömmlichen Fasslichkeits-Vorstellungen geben kann (und sollte), die innerhalb des Faches immer noch fixiert werden. Als Hauptaufgabe einer „aktuellen Hörerziehung“ schält sich daher das Ziel heraus, an Punkte der Unvoreingenommenheit zu gelangen, um Bezüge zur (nicht nur akustischen) Welt existenziell zu erschließen.

In den folgenden Artikeln wird das, was im Einleitungsessay grundsätzlich behandelt wird, auf konkrete Beispiele im Unterricht einschließlich des Umgangs mit standardisierten Unterrichtswerken bezogen. Namentlich die Strategien Lars Edlunds in dessen vor einem halben Jahrhundert erschienenen Lehrbuch „Modus Novus“ werden dabei kritisiert und durch eine Methode des „chromatisiert tonalen Lesens“ (André Fischer) ersetzt. Diese wird dann anhand von Werken von Ruzicka, Gubaidulina, Kurtág und Sciarrino überaus sinnfällig erläutert und dabei vor allem auf das Blattsingen übertragen. Endlich, so möchte man hier wie an anderen Stellen des Buches erfreut ausrufen, kommt die Musik solcher und ähnlicher Komponist/-innen auch in der Ausbildung an – denn das Geschriebene basiert erkennbar auf eigenen Erfahrungen der Autoren. Die Stärke dieses Buches liegt überhaupt darin, dass es über die Kritik bisheriger Modelle hinausgeht und das kreative, aktive Hören – ausgehend auch von Höranalysen (Benjamin Lang) und visuellen Bezügen (Till Löffler) – zu erläutern versteht. Als Zielgruppe solcher Beiträge kann man wohl vor allem Lehrende bezeichnen, die bislang noch skeptisch gegenüber einer Einbeziehung der neuesten Musik sind – oder die nicht wissen, wie es zu handhaben ist. „Hören kann man üben“ ist im Beitrag von Philippe Kocher, der eine vielfältig einsetzbare „Anleitung zum reduzierten Hören“ gibt, einer der Kernsätze. Bezieht man diesen Satz, wie es in diesem Buch mit wechselnden Perspektiven versucht wird, endlich auch vermehrt auf den Umgang mit Neuer Musik, und zwar mit einem breiten ästhetischen Spektrum, ist gewiss viel gewonnen.

Denn als Impulsgeber für Studierende, die das Musikleben der Zukunft ja nachhaltig prägen sollen, ohne bloß das Vorhandene zu perpetuieren, sollten es Ausbildungsinstitutionen geradezu als ihre Pflicht akzeptieren, sich über die Grenzen des Gewohnten hinauszubewegen. Hierfür steht ein wichtiger und bedenkenswerter Gedanke aus dem Einleitungsessay – nämlich die Überzeugung, „dass ganz besonders an Musik(hoch)schulen der Anteil an hörendem Erforschen aktueller Musik gar nicht groß genug bemessen werden kann“. Nimmt man diesen Satz ernst, dann ist allerdings nicht nur in der Musiktheorie, sondern auch in den praktischen Fächern ein Umdenken dringend geboten, damit die ohnehin vorhandene „museale“ Seite der Ausbildungsinstitute nicht Gefahr läuft, jede Form von Lebendigkeit zu ersticken.

Benjamin Lang (Hrsg.): Ganz Ohr? Neue Musik in der Gehörbildung, ConBrio, Regensburg 2013, 248 S., Notenbsp., € 24,90, ISBN 978-3940768-39-1

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