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Glenn Gould im Studio, seinem zweiten Wohnzimmer. Fotos: Don Hunstein/Sony
Glenn Gould im Studio, seinem zweiten Wohnzimmer. Fotos: Don Hunstein/Sony
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Bildschirm frei für einen genialen Exzentriker

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Sony Music legt eine Box mit sämtlichen CBC-Fernsehproduktionen Glenn Goulds vor
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Glenn Gould on Television. The Complete CBC Broadcasts 1954–1977. 10 DVDs, Sony 697952109

Ein Autogrammjäger, der in den Jahren nach dessen Rückzug vom Konzertpodium eine Unterschrift Glenn Goulds ergattern wollte, hätte sich in der Nähe des Eingangs zum Gebäude der Canadian Broadcasting Company (CBC) in Toronto aufhalten müssen. Früher oder später wäre der Pianist dort, wo ihm 1965 ein provisorisches Büro eingerichtet worden war, aufgetaucht. Um seine Post zu holen, um mit Redakteuren, Technikern und Büroangestellten zu plaudern und natürlich immer wieder auch, um Rundfunk- oder Fernsehproduktionen zu machen.

Zahllose Radiosendungen sind aus Goulds intensiver und enthusiastischer Zusammenarbeit mit der CBC hervorgegangen, darunter die Trilogie wegweisender Hörspiele, die 1967 mit „The Idea of North“ begonnen hatte. Drei Jahre später machte die Produzentin Judith Perlman daraus ein Film, der nun Bestandteil der DVD-Edition bei Sony mit sämtlichen CBC-Fernsehproduktionen Goulds ist. Zwar konnte Perlman mit ihren Bildern Goulds Essay –„kontrapunktisches Radio“ nannte er seine Technik, mit der er die Interviewausschnitte teilweise zu mehrstimmigen Inventionen übereinanderschichtete – nur wenig Substanzielles hinzufügen, sie sind aber durchaus in der Lage, die Atmosphäre, die Gould in seinen Interviews mit Menschen aus dem Norden Kanadas geführt hatte, bis in die emphatische Coda hinein (zum Finale von Sibelius’ 5. Symphonie) zu transportieren.

Begonnen hatte Goulds Fernsehkarriere bei der CBC mit einigen Mitschnitten in den 1950er-Jahren. So erleben wir ihn unter anderem mit dem ersten Satz aus Beethovens C-Dur-Klavierkonzert, zu dem er eine polyphon sich verzweigende Kadenz beisteuert, einigen Bach-Ausschnitten (5. Partita, Klavierkonzerte f-Moll und d-Moll) und – eine echte Rarität – als Dirigent. Ohne Taktstock, mit eigenwilligen, weich fließenden Gesten hält er Mahlers „Urlicht“ aus der 2. Symphonie (gesungen von Maureen Forrester) in Bewegung. 

Ab 1961 gestaltete Gould dann aber Sendungen, in denen er als Kommentator und Interpret auftrat, wobei ihm die CBC alle Freiheiten bei der Repertoire-Auswahl ließ. Hieß es dabei zunächst „The Subject is Beethoven“ – Gould gibt etwas trockene Einführungen zu den Eroica-Variationen und zur dritten Cellosonate (zusammen mit Leonard Rose wunderbar gestaltet) – oder „Glenn Gould on Bach“ (hier kann man den frühen Countertenor Russell Oberlin in der Kantate „Widerstehe doch der Sünde“ bewundern und den Klang des von Gould kurzzeitig favorisierten Tastenzwitters „Harpsipiano“ ertragen), so wagte sich der Pianist und TV-Conferencier schon bald in abgelegenere Gefilde vor: So war sein flammendes Plädoyer für Richard Strauss im Jahr 1962 alles andere als zeitgemäß und sein Programm „Anthology of Variation“ enthielt mit Weberns op. 27, dem Gould eine wunderbar bildhafte Beschreibung und eine grandios atmende, mit Gespür für die Proportionen versehene Interpretation ohne Avantgarde-Zeigefinger widmete, ebenso ein Werk der Neuen Wiener Schule wie sein Auftritt mit Yehudi Menuhin. 

Seine einführenden Dialoge mit ihm hätte Gould gerne exakt einstudiert, Menuhin zog es aber vor, diese frei zu gestalten, und so sieht man den Kontrollfanatiker an einer Stelle des Gesprächs über Schönbergs Fantasie op. 47 kurz stutzen, bevor beide den Faden wieder dort aufnehmen, wo sie beim Hereinkommen ins Studio – dieser Moment ist mitdokumentiert – waren: Menuhin hat Vorbehalte gegenüber dem Werk, möchte aber im Spiel mit dem bekennenden Schönberg-Enthusiasten Gould dazulernen.

Schönberg, Strauss, Bach und Beethoven sind dann auch – neben Goulds Dauerthema, dem Rückzug aus dem Konzertsaal zugunsten des Aufnahmestudios – die Leitfiguren der Gespräche mit Humphrey Burton aus dem Jahr 1966. Diese sind zwar weniger lebendig als jene, die Bruno Monsaingeon 1974 in seinem Klassiker „Glenn Gould – The Alchemist“ festhielt, doch artikuliert Gould hier sein künstlerisches Credo mit großer Klarheit und rhetorischer Finesse. 

Von den eingestreuten Musikbeispielen ist die grandiose Darbietung von Beethovens Variationen WoO 80 der einsame Höhepunkt, als frappierendstes Beispiel für die Entstehung einer Studiointerpretation am Schneidetisch erzählt Gould von der gewagten, aber erfolgreichen Kombination zweier, im Ausdruck konträrer Takes der a-Moll-Fuge aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers.

Endgültig überkommt einen die Wehmut über längst vergangene Tage anspruchsvollen Kulturfernsehens angesichts der vierteiligen Serie „Music in our time“, die Gould zwischen 1974 und 1977 gestalten durfte. Unter einem bestimmten Motto stellte er in seinen Augen bedeutsame, zumindest aber charakteristische Werke der Jahrzehnte 1900 bis 1940 vor. Dabei formulierte er nicht nur Plädoyers für Musik, hinter der er hundertprozentig stand (Skrjabin, Schönberg, Webern, Berg, Strauss oder Hindemith), sondern servierte – nicht ohne den einen oder anderen süffisanten Kommentar – auch Sätze aus Stravinskys „Geschichte vom Soldaten“, Poulencs „Aubade“ oder Waltons „Façade“, wobei Gould letztere dazu nutzte, wieder einmal in das alberne Kostüm des britischen Dirigiertrottels Sir Nigel Twitt-Thornwaite zu schlüpfen (seine beiden weiteren Maskeraden, Dr. Karlheinz Klopweisser und Myron Chianti, sind anlässlich zweier kurzer Werbespots auf einer anderen DVD zu sehen).

Herausragende Zeugnisse für Goulds Können als Solist und Kammermusiker sind im Rahmen dieser Serie die Berg-Sonate, die von Roxolana Roslak gut gesungenen Ophelia-Lieder Richard Strauss‘, die Pierrot-Lunaire-Auschnitte, Weberns Konzert op. 24 und Goulds eigene, aberwitzige Version von Ravels „La Valse“.

In einem Fall eines reinen Musikprogramms ohne Erläuterungen erlaubt Gould es sich, seine Meinung über die Musik in die Präsentation selbst zu verpacken: Vor dem Hintergrund eines monströsen Blumenarrangements  und mit schwelgerischem Gestus buchstabiert er zu skelettierten Albertibässen die Melodien aus Mozarts B-Dur-Sonate KV 333 herunter. Die dazu passende Sendung „How Mozart became a bad composer“ ist freilich – wie andere, nicht für die CBC entstandene Produktionen – nicht in der Box enthalten. (Im Münchner Gasteig wird im Rahmen einer ausführlichen Reihe zum 80. Geburtstag des Komponisten eine restaurierte Fassung des Films gezeigt: 12.2., 16.00 Uhr.) Dies ist aber angesichts der überwältigenden Ausbeute an wunderbaren, nicht durch endlose Schnittphasen gefilterten Aufnahmen leicht zu verschmerzen. Sie lassen erahnen, welche Wirkung von den Konzertauftritten des genialen Exzentrikers ausgegangen sein muss.

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