Vom 30. August bis 15. September stellen sich in München wieder junge Musiker den kritischen Ohren der Jury des bedeutendsten Musikwettbewerbs in Deutschland. Seit Anfang des Jahres ist Axel Linstädt künstlerischer Leiter des ARD-Musikwettbewerbs. nmz-Redaktionsleiter Andreas Kolb sprach mit Axel Linstädt, der seit 28 Jahren beim Bayerischen Rundfunk tätig ist und seit 1996 den Programmbereich Bayern 4 Klassik – Musik leitet, über den Wettbewerb 2006.
neue musikzeitung: Im vergangenen Jahr hat eine dramatische Veränderung in der Struktur des Wettbewerbs stattgefunden. Was hat sich konkret beim Wettbewerb verändert und was reizt Sie an Ihrer neuen Aufgabe?
Axel Linstädt: Man hat mich damals gefragt, ob ich die Leitung des Wettbewerbs übernehmen wolle, und ich habe spontan und begeistert zugesagt. Nach wie vor wird der Wettbewerb im Auftrag der ARD vom Bayerischen Rundfunk durchgeführt, aber es ist natürlich richtig, dass es Veränderungen gegeben hat. Wir hatten den Rotstift anzusetzen und ein Drittel der Kosten einzusparen, dies war die Voraussetzung dafür, den Wettbewerb mit allen ARD-Anstalten fortführen zu können. Deswegen mussten wir das Kammermusikfest zunächst aus dem ARD-Wettbewerb herausnehmen. Doch wollten wir selbstverständlich die Substanz des Wettbewerbs – mit den rotierenden Fächerkombinationen – erhalten.
: Können Sie Ihr Konzept genauer erläutern?
Linstädt: Vorweg einmal: Ich bin ein großer Bewunderer von Christoph Poppens Arbeit. Die Neuerungen, die er eingeführt hat, finde ich hervorragend. Er hat aus dem Gegeneinander der Teilnehmer ein Miteinander gemacht, sie nicht nach der Preisvergabe in eine ungewisse Zukunft entlassen, sondern sie zu gemeinsamer musikalischer Arbeit wieder zurückgeholt. Er hat mit dem Kammermusikfest und der Vergabe von Kompositionsaufträgen einige tolle Ideen gehabt, die ich gerne beibehalten bzw. weiterführen möchte. Meine Aufgabe wird nicht sein, großartige neue Visionen zu entwickeln, sondern den hohen Standard, den Poppen vorgegeben hat, mit deutlich weniger Mitteln zu halten.
: Es gibt nicht nur Kürzungen zu vermelden, sondern auch einige positive Neuerungen. Welche sind das?
Linstädt: Ich bin stolz auf meinen Arbeitgeber, den Bayerischen Rundfunk, der sich als wichtiger Kulturträger sieht und meinem Bereich große Unterstützung zukommen lässt. Das Kammermusikfest haben wir zwar aus dem Budget der ARD herausgerechnet, doch hat der BR es bereits in diesem Jahr in eigener Trägerschaft übernommen. Ohne unsere Sponsoren und Unterstützer wäre das alles aber gar nicht möglich. Da wäre an erster Stelle die Theodor-Rogler-Stiftung sowie die Fondation-Alice-Rosner zu nennen. Neu dazu gekommen und für das Kammermusikfest entscheidend sind die Stavros S. Niarchos Foundation, mit der wir dann auch zwei Konzerte in Athen bestreiten, und – last but not least – die Wolfgang-und-Ingrid-Hensel-Stiftung. Sie alle haben es ermöglicht, das Kammermusikfest weiterhin zu realisieren.
: Was ist dieses Jahr das Besondere am Wettbewerbsprogramm?
Linstädt: Eine nennenswerte Neuerung gibt’s im Bereich Gesang. Konzert- oder Liedgesang ist etwas hörbar anderes als Operngesang: Es wäre verkehrt, da wie mit dem Rasenmäher drüberzugehen, um am Ende zu sagen, das hier sind die besten „Universal-Sänger“. Deshalb haben wir hier zwei getrennte Kategorien eingeführt. Eine weitere Änderung betrifft das Bewertungssystem. Wir sind vom 25-Punkte-System quer durch alle Durchgänge abgekommen. Wie im letzten Jahr schon wird im ersten Durchgang nur mit Ja oder Nein entschieden, ob der Kandidat für den zweiten Durchgang in Frage kommt. Dort wird dann mit 25 zu vergebenden Punkten differenziert gewertet, wobei man mindestens 18 Punkte erreichen muss, um ins Semi-Finale zu gelangen. Im Semi-Finale, wenn nur noch sechs Teilnehmer übrig sind, vergeben die Juroren – und dies ist neu – konkrete Platzziffern, ebenso im Finale, in das drei oder vier Kandidaten gelangen. Das zwingt die Juroren zu einer eindeutigen Aussage über die Rangfolge.
: Hat sich das ein Statistiker ausgedacht?
Linstädt: Nein, das haben wir uns im kleinen Kreise – wir, das sind Ingeborg Krause, Oswald Beaujean und ich – ausgedacht. Ich hoffe, dass man dadurch eine klarere Linie bekommt, und wir werden das in diesem Jahr erproben. Das neue System wird sicher kritisiert werden, weil es auch Leute gibt, die meinen, Zahlen sagten ja alles und man könne den interpretatorischen Wert sehr leicht statistisch errechnen. Wie dem auch sei, mir gefällt unser Verfahren besser, und letzten Endes steht und fällt das Ergebnis mit der Qualität der Jury. Auf sie kommt es an.
: Ein paar Worte zur Jury?
Linstädt: Es ist kein Geheimnis, dass die Zusammenstellung der Jury 2006 weitgehend von Christoph Poppen geleistet wurde. Im Augenblick arbeiten wir bereits an den Jury-Besetzungen für 2007 wie 2008 und vergeben Kompositionsaufträge, die ja bekanntlich einen gewissen Vorlauf haben. Ich freue mich zum Beispiel darüber, dass wir eine Zusage von Rodion Schtschedrin haben für die Komposition eines Streichquartett-Satzes. Diese Dinge sind jetzt mein Thema. Aus der Jury möchte ich eigentlich keine Person hervorheben. Sie ist hochkarätig besetzt und ich freue mich darüber, dass diese Persönlichkeiten in einer gewissermaßen dienenden Mission zu uns kommen und ihr Bestes geben werden.
: Um noch mal zurückzukommen auf die stilistische Trennung im Bereich Gesang. Wäre abgesehen von der Lied-Oper Abgrenzung nicht auch eine epochenspezifische Ausdifferenzierung sinnvoll?
Linstädt: Vieles wäre wünschenswert, und mir ist klar, dass es Spezialisten für Alte Musik gibt und Künstler, die für Zeitgenössisches ideal sind. Aber das wäre eine Ausdifferenzierung, die wir nicht leisten können. Wenn’s nicht so flapsig klänge, würde ich sagen: Wir versuchen’s jetzt halt mal so und sind hinterher sicher schlauer.
: Wer hat die Auftragskompositionen für dieses Jahr geschrieben?
Linstädt: In diesem Jahr sind es Evis Sammoutis (Bläserquintett), Aribert Reimann (Gesang) und Manfred Trojahn (Klavier). Im nächsten Jahr Tobias PM Schneid (Klaviertrio), Olli Mustonen (Oboe), Stefan Heucke (Posaune) und Matthias Pintscher (Schlagzeug).
: Was kann man über die aktuelle Zusammensetzung der Teilnehmer sagen? Welche Nationen sind am stärksten vertreten?
Linstädt: Ganz vorne – mit 80 von 192 Teilnehmern – kommt Deutschland, dann Korea und Japan, Russland und Frankreich.
: Wie werden die Neuerungen und die Weiterentwicklungen des Wettbewerbs der vergangenen Jahre von den Musikern bewertet? Wurde die Wegbewegung von der ausschließlich solistischen Darbietung hin zu Kammermusik-Ensembles von den Künstlern begrüßt, die, wie man meinen möchte, doch zu allererst eine Solisten-Karriere anstreben?
Linstädt: Natürlich versucht fast jeder, als Solist zu reüssieren. Aber dies ist enorm schwierig. Es sind einfach nur sehr wenige, die da Erfolg haben oder mit einem gewissen Marketing-Aufwand positioniert werden. Es wird immer wichtiger, dass sich Solisten mit anderen verständigen, nicht nur um Netzwerke zu bilden, sondern um Kammermusik auf höchstem Niveau aufzuführen und das Publikum dafür zu begeistern. Die allseits positive Resonanz auf unser „Festival der ARD-Preisträger“, wie das Kammermusikfest offiziell heißt, kann dies belegen.
: Wo sieht der BR Möglichkeiten für die Vermarktung des ARD-Musikwettbewerbs? Gibt es dahingehend eine Strategie, um den Wettbewerb langfristig abzusichern?
Linstädt: Wir haben das Glück, selbst Teil eines Massenmediums zu sein, und so können wir den kompletten Wettbewerb auf Bayern 4 Klassik täglich begleiten und darüber berichten. In der Finalwoche gibt es dann auf dieser Welle allabendlich mehrstündige Sondersendungen und natürlich die Übertragungen der Finalkonzerte. Das Fernsehkonzert läuft in den dritten Programmen, wobei ich mir wünschen würde, dass es in der Zukunft vielleicht auch einmal im „Ersten“ übertragen wird. Darüber hinaus bieten wir unser Material nicht nur innerhalb der ARD, sondern über die EBU (European Broadcasting Union) europaweit anderen Sendern an.
: Der Erhalt des Musikwettbewerbs durch die ARD und insbesondere durch den BR ist doch ein Bekenntnis zum Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks?
Linstädt: Genauso ist es! Sie selbst haben im letzten Jahr in der neuen musikzeitung über die Probleme berichtet: Es sah kurze Zeit so aus, als würde der Wettbewerb sterben. Erst Anfang Juli 2005 wussten wir: Wir können mit reduzierten Mitteln weitermachen. Dann habe ich mich mit Ingeborg Krause, die – wenn ich das so sagen darf – das Herz des Wettbewerbs ist, zusammengesetzt, und wir haben gerechnet und überlegt, was wir weglassen können und was nicht. Die Entscheidung, das Preisgeld um etwa 20 Prozent zu senken, fiel uns nicht leicht. Der erste Preis war zuvor mit 10.000 Euro dotiert und liegt jetzt bei 8.000 Euro. Dies hat den Wettbewerb nicht beschädigt, er ist nach wie vor äußerst attraktiv und eine Börse für die ganz großen Talente.
: Hat der Papstbesuch Ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht?
Linstädt: Ja, ein wenig schon! Wegen der höchsten Sicherheitsstufe mussten wir einige Termine ändern, weil man den Herkulessaal zu diesem Zeitpunkt nicht hätte erreichen können. Aber das Papst-Programm wurde zum Glück rechtzeitig bekannt gegeben, so dass die Probleme rasch gelöst werden konnten.
: Der ARD-Musikwettbewerb steht aber nicht auf der Tagesordnung des Papstes?
Linstädt: Leider nicht, dies wäre zu schön …
: Wird es wieder Konzerte der Preisträger mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und dem Münchener Kammerorchester geben?
Linstädt: Ja, ein Konzert mit dem Münchener Kammerorchester unter der Leitung von Alexander Liebreich und das Finalkonzert mit dem Symphonieorchester des BR, Dirigent: Jonas Alber. Auch unser Münchner Rundfunkorchester hat Interesse bekundet, ein Konzert mit den Preisträgern zu spielen, das wird aber aus Gründen der Disposition frühestens 2009 möglich sein.
: Was wünschen Sie sich als neuer künstlerischer Leiter für die Zukunft des Wettbewerbs?
Linstädt: Ich wünsche mir hervorragende Preisträger. Denn das ist etwas, was wir selbst nicht beeinflussen können.