Wie wird man als Komponist berühmt? Die Frage haben sich schon viele gestellt, vor allem diejenigen, die es nicht geworden sind. Die Antwort ist wohl ähnlich schwierig wie die Vorhersage der Börsenkurse, aber eines ist sicher: Die Qualität der Musik ist zunächst nebensächlich. Später mag sie unverzichtbar sein, aber zu Beginn einer Karriere sind andere Faktoren wichtiger.
In Deutschland etwa muss ein Newcomer von einem der paar einflussreichen Kompositionslehrer oder einem Verlag bei einem der paar einflussreichen Veranstalter gepusht werden. Wenn einer anbeißt, ziehen die anderen in der Regel mit, denn keiner will sich dem Vorwurf des Zuspätkommens aussetzen. Hat das product placement funktioniert und sitzt der Neue erst einmal auf dem Veranstalterkarussell, so wird das Projekt „Junger Komponist“ für die nächsten Jahre zum Selbstläufer. Jeder will nun am Erfolg teilhaben: Die Ensembles, Solisten und Dirigenten mit einer „UA“ im Programm, die wohl meinenden Orchesterdirektoren, Abteilungsleiter, Preisverleiher und Stipendiengeber. Die Presse hat eine reaktive Aufgabe: Sie feiert die längst abgemachte Sache als Entdeckung und gibt damit dem Ritual den öffentlichen Segen.
In der Börsensprache heißt das: „Die Hausse nährt die Hausse.“ Hinterher bricht der Kurs irgendwann wieder ein, und erst jetzt kommt der qualitative Aspekt zum Tragen. Er entscheidet über den tiefen Fall oder den weiteren Aufstieg. Und schon ist der Nächste dran, das Spiel beginnt von vorne.
Es gibt aber auch andere Fälle: Komponisten, die viele Jahre ihres Lebens im Abseits stehen und unbeachtet bedeutende Musik schreiben. Wenn sie dann irgendwann „entdeckt“ werden – nur hier ist das Wort zutreffend –, kommen sie zu späten Ehren, und der Musikbetrieb bemüht sich um sie mit Wiedergutmachungs-Aktionen, die nicht ohne Peinlichkeiten sind. Sie lassen die beflissenen Honneurs mit der Souveränität derjenigen an sich abprallen, die aus dem Kampf mit der ignoranten Öffentlichkeit gestärkt hervorgegangen und sich ihrer Sache sicher geworden sind. Sie sind die wahren freien Geister.
Ein solcher Fall war Conlon Nancarrow. Geboren 1912 in den USA, machte er nach seinem Musikstudium allerlei Dummheiten. Er war zum Beispiel für kurze Zeit Mitglied der kommunistischen Partei und Mitorganisator eines Konzerts zum zehnten Todestag von Lenin. Dann wurde er Musiker in der Bordkapelle eines Überseedampfers, landete in Europa und schloss sich 1937 der Lincoln Brigade an, dem amerikanischen Freiwilligencorps im Spanischen Bürgerkrieg. Alles Dinge, die Uncle Sam nicht gerne sah. Nach seiner Rückkehr als Verwundeter wurde sein Pass nicht mehr verlängert, er wurde ein Bürger zweiter Klasse. 1940 übersiedelte er nach Mexiko, wo er sich 1951 einbürgern ließ und bis zu seinem Tod 1997 lebte. Eine schwierige Voraussetzung für eine Komponistenkarriere, und zugleich eine günstige für ein Werk, das sich jenseits aller Vergleichsmaßstäbe entwickelte und auch ohne Vergleich dasteht. Nancarrow komponierte für das sogenannte Player Piano, das durch gestanzte Rollen und mittels Druckluft zum Klingen gebracht wird. Zwischen 1949 und 1991 schuf er rund fünfzig solcher Stücke, die er „Studies“ nannte. An manchen von ihnen arbeitete er über ein Jahr. Er stanzte sie selbst, verfeinerte unablässig die komplizierten Abspielmechanismen und wurde auf Dauer quasi eins mit seinen Werkzeugen. Ein genialer Musikingenieur und Tüftler, dessen kompositorisches Denken mit dem Instrument verschmolz. Er produzierte Klanggebilde von bizarrer Gestalt und fremdartiger Schönheit. 30 Jahre lang verbrachte er kaum beachtet in seiner Werkstatt am Rande von Mexiko City. Wenige nahmen sein Werk zur Kenntnis, auch sie Außenseiter: Komponisten wie Henry Cowell, James Tenney, Elliott Carter und John Cage, Journalisten wie Peter Garland und Charles Amirkhanian. Nancarrow war eine jener „Desert Plants“, die der Komponist Walter Zimmermann in seinem 1976 erschienenen Buch über musikalische Außenseiter porträtierte. Mit diesem Buch beginnt die europäische Rezeption Nancarrows – erst untergründig, dann in immer größeren konzentrischen Kreisen. Der Pianist Herbert Henck, selbst ein musikalischer Trüffelsucher, macht Journalisten und Veranstalter auf Nancarrow aufmerksam, in Berlin und Bremen erklingt vom Tonband erstmals sein Musik. Als 1982 im Kölnischen Kunstverein György Ligeti ein Lautsprecherkonzert mit Nancarrows Werken kommentiert und ihn als den „bedeutendsten Komponisten der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts“ apostrophiert, ist der Damm gebrochen. Jetzt wollen alle Festivals Nancarrow spielen. Dem Veranstalterwettlauf schaut der Komponist mit distanzierter Skepsis zu.
Für das Zustandekommen der späten Anerkennung sorgte aber vor allem ein Mann, der im ganzen Musikbetrieb bis dahin völlig unbekannt war: ein Chemie-Angestellter aus Bergisch-Gladbach namens Jürgen Hocker. Mit Nancarrows Musik war er zufällig in Berührung gekommen und hatte als Sammler von mechanischen Instrumenten den Spleen, sie auf einem Originalinstrument zum Erklingen zu bringen. Er restaurierte ein uraltes Player Piano, das er in Belgien gefunden hatte und schuf damit die Voraussetzung für eine „Live“-Wiedergabe. Seither reist er mit seinem Klangmöbel durch die europäische Festivallandschaft.
Hocker ist auch der Autor des bisher umfassendsten und kenntnisreichsten Buchs über den Komponisten: „Begegnungen mit Conlon Nancarrow“, erschienen bei Schott. Die Gespräche und Beobachtungen, die Hocker auf den vielen gemeinsamen Konzertreisen mit Nancarrow machen konnte, sind darin akribisch ausgewertet, die Musik auf einer CD dokumentiert. Es ist zum Glück keine dröge Musikologenarbeit, sondern ein lebendiger Bericht, der den Komponisten aus der Alltagsperspektive und seine Musik unter handwerklich-technischen Aspekten zeigt, ohne ambitionierten theoretischen Überbau. Eine erfrischend sachliche Dokumentation über einen Komponisten, der seinen Weg allein ging und den späten Rummel um seine Person weitgehend ignorierte. Manchmal geht es eben auch ohne die eingefahrenen Mechanismen des großen Betriebs.