Der Politikwandel ist schleichend, aber intensiv. Er zeigt sich unter anderem überdeutlich in der simplen Tatsache, dass es nur eine Partei gibt, die in den letzten Jahren einen permanenten Zuwachs an Stimmen hat: die Nichtwähler.
Dieser Vorgang wird von allen zwar zu Wahlterminen punktuell bemerkt, aber bestenfalls in der medialen Öffentlichkeit an prominenter Stelle so diskutiert, dass er genauso inszeniert wirkt wie Politik insgesamt selbst. Mit der Interpretation als Politikverdrossenheit greift man zu kurz. Es ist vielmehr ein Gefühl der Ohnmacht und ein Vertrauensverlust gegenüber der Funktionsfähigkeit der Politik. Das Individuum zählt nichts, die Lobbyisten haben das Feld übernommen.
Ein Bollwerk von Politikmanagern „beschützt“ den Normalmenschen und -bürger vor Veränderungen, die zu seinem und damit einem gesamtgesellschaftlichen Vorteil sein könnten, indem man so lange die negativen Kulturfolgen heraufbeschwört, bis man den Ist-Zustand als Utopie proklamieren kann, hinter den man sicherheitshalber zurückzufallen habe: Die Realität von heute wird zur Utopie von morgen.
An sich kennt die bundesdeutsche Politikkultur gegen diese Art von Verknöcherung einige Hausmittel. Man setzt eine Enquete-Kommission ein, wenn es nicht mehr genügt, sich auf Meinungsforschungsinstitute zu verlassen, die die gewünschten Ergebnisse herausspucken. Eine der letzten Kommissionen dieser Art war diejenige über „Kultur in Deutschland“. An Kritik am kulturellen Status Quo hat die Kommission tatsächlich nicht gespart. Der gesamte Bericht der Kommission war trotz seines Umfanges präzise und die Hausaufgaben wurden verteilt. Mit welchem Resultat? Ein dicker Wälzer, der offenbar gut als Buchstütze sich eignet oder zur Fixierung von Festplatten. Fast alles darin zerstob in die Winde. Man kann dies am Beispiel der Reaktion der GEMA festmachen, die sich immerhin ein Jahr Zeit ließ, die dort erwähnten Kritikpunkte zu „beantworten“, ohne sich wirklich vom Fleck zu bewegen. Auch die aktuell eingesetzte Enquete-Kommission zum Thema „Netzpolitik und Digitale Gesellschaft“ nährt wenig Hoffnung darauf, mehr zu produzieren als geduldiges Papier. Die Auswahl der Sachverständigen der Kommission ist teilweise unverständlich. Unter den Sachverständigen findet sich beispielsweise ein Dieter Gorny, der hier einen Spielplatz zur Vertretung bestimmter Klientel finden kann und damit eine weitere Position im kulturpolitischen Feld für die Lobbyarbeit der so genannten Musikindustrie besetzen kann.
Zur gleichen Zeit muss man feststellen, dass die Zeit der sich selbst organisierenden Bürgergruppen (Enquete-Kommissionen aus der gesellschaftlichen Mitte) vorbei ist. Eine der seltenen Bürgerinitiativen dieser Art im Musikbereich war die von „Das GANZE Werk“, die eigentlich nur ein minimales Ziel hatte, nämlich im Sendebereich des NDR unter der Woche auch mal ein vollständiges Werk zu hören und kompetente Moderation zu bekommen. Material wurde dazu gesammelt, es gelang sogar, Politiker wie Richard von Weizsäcker oder Gerhart Baum ins Boot zu holen. Allein, es half nichts. Das stahlharte Gehäuse des Institutionsgeflechts im öffentlich-rechtlichen Rundfunk hat sich erfolgreich wehren können. Eine weitere Möglichkeit besteht eigentlich darin, sich mit seinem Anliegen an den Petitionsausschuss des Bundestages zu wenden, um beispielsweise Gesetze überprüfen zu lassen; wenn man so will, eine kulturpolitische Notbremse zu ziehen. Das haben insgesamt drei Petenten in Sachen GEMA probiert und dabei eine erstaunlich breite Unterstützung von über 100.000 Mitzeichnern erfahren. Dabei war vor allem die zentrale Petition, von Monika Bestle initiiert, insgesamt schwammig und selbst von Partikular-interessen geleitet formuliert.
Einer Institution, die sich selbst ein auf völlig abstraktes und unsinniges Verständnis von demokratischen Entscheidungsprinzipien kraft Satzung gegeben hat, glaubt man nicht anders mehr beikommen zu können, das ist tragisch genug. So untauglich die Petition selbst sein mag, so irritierend ist die Reaktion der Politik. Der Vorfall um die Präsenz des GEMA-Vorstandsvorsitzenden, der sich während der öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses ereignete (siehe Artikel Seiten 11/12), muss den Verdacht nähren, dass auch hier längst alle anliegenden Probleme einvernehmlich zwischen Politikern und Lobbyisten ausgemauschelt worden sind. Nun ist die GEMA vielleicht harmlos; was, wenn ein Ackermann das Finanzministerium verträte? Partizipation durch Mitzeichnung wird schnell zur politischen Party-Zone, die den Mob anzieht. Die Defekte der Politik erzeugen Gegendefekte. Das ist das doppelte Trauerspiel.
„Grundrechtliche Garantien allein können freilich Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft vor Deformationen nicht bewahren“, stellte Jürgen Habermas schon vor bald 20 Jahren fest, und setzt fort: „Die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit müssen vielmehr von einer vitalen Bürgergesellschaft intakt gehalten werden.“ Diese Chancen sah Habermas damals noch. Das hat sich grundlegend geändert, wie die Beispiele oben zeigen. Wo die Vitalität der Bürgergesellschaft mit aller Kraft gehemmt wird, setzen sich umso stärker Partikularinteressen nicht mehr nach dem Maße vernünftiger Diskursführung, sondern nach Maßgabe von Machtstrukturen durch. Das Selbstlähmungsvermögen steigt in dem Maße, wie Bürger-Initiativen blockiert werden und mediale Öffentlichkeit und Politik sich dem beugen, der den größeren Werbe-Etat besitzt. Und das, obwohl sich die Möglichkeiten, Öffentlichkeit zu erzeugen durch das Internet extrem vergrößert haben sollten. Das Ergebnis ist eher Vergleichgültigung durch Vervielfachung, bei gleichzeitig zunehmender Abhängigkeit von Unternehmen der Privatwirtschaft.
Das sind keine guten Aussichten für einen Politikwandel, sondern Anzeichen für den Beginn eines Zeitalters des Kulturdarwinismus.