Der Schweizer Komponist Klaus Huber erhält am heutigen 15. Mai 2009 in München mit dem Ernst von Siemens Musikpreis den größten europäischen Preis dieser Art. Huber ist 1924 in Bern geboren, war von 1973 bis 1990 Professor für Komposition in Freiburg im Breisgau und hat mit seinem Institut für Neue Musik weltweite Wirkung auf Schüler und vor allem Strukturen für das Lernen von Komposition gehabt: die von ihm entwickelte Ausbildungsmethode in der engen Verbindung von Theorie und Praxis ist ein bis heute gültiges Unterrichtsmodell. Ein Interview aus der März-Ausgabe der nmz.
Seit 1994 lebt er in Bremen und Panicale (Umbrien), unermüdlich tätig als Komponist und als Gastprofessor in aller Welt. 1970 erhielt er den Beethovenpreis der Stadt Bonn, 1975 den Kompositionspreis des Schweizerischen Tonkünstler-Verbandes, 1986 den Premio Italia, 1978 den Kunstpreis der Stadt Basel, 2009 den noch jungen Musikpreis Salzburg, um nur wenige und die wichtigsten zu nennen. Und nun krönt sein Lebenswerk der Ernst von Siemens Musikpreis, den es seit 1974 für Komponisten, Interpreten oder Musikwissenschaftler gibt: Benjamin Britten war der erste Empfänger. Für die neue musikzeitung sprach Ute Schalz-Laurenze mit dem Komponisten.
neue musikzeitung: Es wäre schön, wenn du noch einmal darlegen könntest, wie es zu deinem durch und durch politischen Denken kam? 1975 hast du mit „Senfkorn“, das zum Herzstück deines großen Oratoriums „Erniedrigt-Geknechtet-Verlassen-Verachtet“ wurde, Stellung bezogen. Das 1971 entstandene „…inwendig voller Figur…“ für Chorstimmen und großes Orchester ist vielleicht das erste ganz große Werk, das sich 25 Jahre nach Hiroshima radikal auf die Gegenwart bezieht…
Klaus Huber: Mein Vater war Musiklehrer. Ich spielte Geige und war eineinhalb Jahre Dorfschullehrer. Da waren Fabrikarbeiterkinder neben Bauernkindern und da stieß ich schon mit der Frage nach den Menschenrechten zusammen. Dann studierte ich aber doch weiter Musik, obschon auch Malen eine Option gewesen wäre.
Faszination der Dritteltöne
nmz: So verdanken sich seit über 40 Jahren nahezu alle Werke politischer oder gesellschaftskritischer Antriebskraft. Spätestens mit dem Streichtrio „Des Dichters Pflug“ 1989 mit einem Gedicht von Ossip Mandelstam, dem ersten konsequent dritteltönigen Werk, ist dieses Denken, diese Basis sozusagen auch material geworden. Und da ist auch die tiefe Achtung vor der arabischen Kultur, aber meine Frage wäre, worauf begründest du die Hoffnung, dass sich das auch dem einfachen Hörer vermittelt?
Huber: Also erstmal muss man ja sagen, dass die Dritteltönigkeit eine europäische Entdeckung war! Guillaume de Costelet hat sie im 16. Jahrhundert gefunden! Das „Cembalo universale“ – eine historische Erfindung in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Ferrara – das im norddeutschen „Organeum“ in Wehner steht, dokumentiert das in seiner Teilung der Oktave in 19 Töne. Diese Spirale von reinen kleinen Terzen ist zunächst einmal eine klangliche Faszination ohnegleichen. Ich war in diesem Organeum und nach einer Woche dachte ich: Ich muss jetzt hier raus, sonst werde ich verrückt. So schön war das. Dann hat sich aber der Ansatz mit den Dritteltönen sozusagen politisiert. Ob man das hört? Der Durchschnittshörer hört das nicht analytisch. Aber er hört die Spannweite und die Tiefendimension, die daraus entstehen, und das genügt mir. Die Sympathie für dieses System kam definitiv im Golfkrieg 1990 mit seiner antiarabischen Propaganda: Ich konnte das einfach nicht akzeptieren, dass diese Kultur minderwertig sein sollte. Ich habe dann angefangen, im „Maison de la Culture Arabe“ in Paris zu forschen, in jeder Hinsicht, nicht nur in Musiktheorie und Tonsystemen, auch in Literatur und Philosophie.
nmz: Bekannt ist deine Liebe zu Mozart und die Beschäftigung mit seiner Musik, die ihren Niederschlag unter anderem im Streichquintett „Ecce Homines“ (1998) fand. Welche anderen großen Werke der Musikgeschichte hatten entscheidenden, vielleicht auch verändernden Einfluss auf dich? Ich denke dabei an Carlo Gesualdo in den „Lamentationes Sacrae et Profanae ad Responsoria Gesualdi“ (1993–1997), auch Johannes Ockeghem mit „Agnus die cum Recordatione“. Was haben diese Auseinandersetzungen mit dem politischen Klaus Huber zu tun?
Huber: Ernst Bloch hat einmal sinngemäß gesagt: „Das Unabgegoltene in der Geschichte aufzusuchen und neu fruchtbar zu machen, ist eine bessere Weise des Fortschritts als tabula rasa…“ Darauf kam es Bloch an und darum geht es mir bei der Beschäftigung mit alter Musik. Bei Mozart ist es dieses Rätsel, das ist ganz weit und ganz groß… Ich wollte nicht Mozart vergrößern, sondern aus diesem Rückenwind heraus Zukunft gestalten.
nmz: Es fällt auf, dass du oft sehr unterschiedliche Dichter, Philosophen, Theologen, beziehungsweise ihre Texte, oft über Jahrhunderte hinweg miteinander verschränkst. Ich denke zum Beispiel an Ernesto Cardenal und den Propheten Jesaja im großen Oratorium „Erniedrigt-Geknechtet-Verlassen-Verachtet“ (1975–1982), „Nudo que ansí Juntaís“ für 16 Solostimmen, wo du 1984 Texte von der spanischen Mystikerin Teresa von Avila aus dem 16. Jahrhundert und dem chilenischen Schriftsteller und Widerständler Pablo Neruda verwendest. Oder auch in der Raummusik „Cantiones de Circulo Gyrante“ (1985), in der Texte von Heinrich Böll und Hildegard von Bingen aus dem 12. Jahrhundert die Grundlage sind…
Huber: Das ist vergleichbar mit meiner Haltung zu historischer Musik: Wenn man die Dichtung historisch-chronologisch einordnet, bleibt das ja viel zu eng. Mich hat immer interessiert, wo sind die Brücken, die die-se unterschiedlichen Zeiten in Gedanken verbinden. Heinrich Böll hat mir gesagt, er sei gar nicht so weit von Hildegard entfernt, wie ich glaubte… Zur Verbindung Avila-Neruda ist zu sagen: Das Zentrale ist bei beiden die Liebe, bei Avila die mystische, bei Neruda die menschliche. Aber alles, bei beiden, hat die gleiche Quelle: die Tiefe der Seele.
nmz: Mit der Viola d'Amore hast du in „Plaintes“ (für Luigi Nono) 1990 ein Barockinstrument verwendet. Welche Faszination ging von diesem Instrument aus?
Huber: Ich bin in Basel frühzeitig mit Praxis und Denken der Schola Cantorum konfrontiert worden. Ich habe mich erstmal sehr mit dem Cembalo beschäftigt, später mit Laute, Theorbe oder Fiedeln. Ja, und dann starb Luigi Nono. Ich hatte gerade darüber nachgedacht, dass die Bratsche im Streichquartett von oben und unten oft so eingengt ist. Und da habe ich dieses siebensaitige Instrument mit einer dritteltönigen Scordatura…
nmz: …das bedeutet eine Umstimmung der Saiten…
Huber: Ja. In Janáceks Streichquartett „Intime Briefe“ wird übrigens auch dieses Instrument verlangt und der Bratscher sagte damals zu ihm, das könne man doch nicht spielen. Janácek machte daraus für ihn also eine Bratschenpartie. Die ursprüngliche Fassung hörte ich mit Pierre Henri Xuereb an der Viola d‘amore als Uraufführung 2008 in Paris! Er ist der Erste, der die Scordatura aufgeschlüsselt hat. Aber dann ist das einfach eine andere Musik, und wenn du das begriffen hast, kommst du aus dem Staunen über den Klang dieses Instrumentes nicht heraus.
Pädagogische Prinzipien
nmz: Dein Wirken als Lehrer ist bekannt, einige Schüler haben heute Weltgeltung – Younghi Pagh-Paan, Wolfgang Rihm, Reinhard Febel, Toshio Hosokawa, Brian Ferneyhough, Claus Steffen Mahnkopf, Michael Jarrell, Dieter Mack, Johannes Schöllhorn, Günter Steinke, Hans Wüthrich oder André Richard. Man kann Kunst nicht akademisch lernen, das hast du ja auch immer gesagt und praktiziert. Kannst du noch einmal deine pädagogischen Prinzipien nennen und auch, was du heute im Nachhinein vielleicht radikaler, vielleicht sogar anders machen würdest?
Huber: Da ist zuerst einmal die Praxisbezogenheit, die wir nicht hatten. Alles war in meiner Jugend auf dem Papier, wurde von dort aus beurteilt, nichts wurde angehört. Das war nicht nur bei Willy Burkhard in Zürich, das war auch bei Boris Blacher in Berlin so. Ich habe in Freiburg sofort das Studenten-Ensemble für Neue Musik gegründet. Damals vertraten doch tatsächlich einige Professoren die Meinung, solches könne den Studierenden auch schaden. Da war Arturo Tamayo mein Student, dann kam Cathy Berberian und sang vom Ensemble begleitet – Arturo dirigierte – „Folk Songs“ von Luciano Berio, der auch kam. Von da an hatten wir Rückenwind. Das hat sich dann auch international durchgesetzt. Was ich heute anders machen würde? Ich würde sicher früher die Elektronik miteinbeziehen. In Freiburg hatten wir damals immerhin schon diesen direkten Zugang zum Studio für live electronics der Strobel-Stiftung mit Hans Peter Haller. Luigi Nono hat durch meine Einladung zu uns nach Freiburg dieses Studio erst kennengelernt! Anders wäre vielleicht „Prometeo“ gar nicht entstanden.
nmz: Du willst also erreichen, dass der Schüler sich selbst findet und nicht andere kopiert. Ist Lesen, wie gerade du es so gezielt getan hast, und Wahrnehmen von politischer Wirklichkeit für die Existenz des Komponisten, des Künstlers unerlässlich?
Huber: Natürlich hatten wir immer Gespräche, aber diese waren nicht didaktisch, das muss doch jeder selber finden.
nmz: Wenn du dir den Nachwuchs so anschaust, gibt es da etwas, was dir generell auffällt? Haben es die jungen Leuten heute schwerer als ihr damals?
Huber: Es scheint mir heute einen Druck zu geben, der nicht gerade zur Vertiefung der Künste führt. Alles ist ein Produkt. Natürlich ist die Kunst auch ein Produkt, aber wenn es ver-kauft werden soll, wenn es erfolgreich sein soll, entsteht so eine unglaubliche Gefahr, dass die, die in dem heutigen Betrieb große Karriere machen wollen, ziemlich bald verflachen. Das geht ja fast nicht anders. Und der Genuss der Oberfläche führt zur Verdinglichung der Kunst. Ich finde es toll, dass in der Vergabe des Salzburger Musikpreises drinsteht, dass 1/5 als Fördergeld vom Preisträger weitergegeben werden muss. Damit kann er dann einen jungen Komponisten erreichen, der diesem Mainstream noch widerstehen will.
nmz: Hat sich deine Einstellung, was Kunst kann, was sie soll, im Laufe deines Lebens verändert? Du sagst ja, sie ist und bleibt das Bloch'sche Prinzip Hoffnung.
Huber: Das hat sich bei mir nicht verändert.
nmz: Ein Blick auf den Musikbetrieb: Eine Aufführung deiner „Tenebrae“ litt 1970 beim Festakt zur Überreichung des Beethovenpreises an dich in Bonn unter dem Widerstand des Orchesters in der Generalprobe. Wie sieht es heute für dich aus? Ein Komponist kann, hat er nicht eine Professur, ja selten existieren. Wenn Du Macht hättest, was würdest du tun?
Huber: Die Orchester sollten sich selbst mehr zur Wehr setzen. Es ist ja nicht nur die mangelnde Zahl der Proben, es ist deren Ökonomie. Wenn man mindestens 14 Tage vorher Leseproben machen würde, könnten die vorgesehenen Proben sogar ausreichen. Aus den USA habe ich gehört, dass Proben als unproduktiv verstanden werden, weil sie ja Geld kosten und keines einbringen… Deshalb pro Konzert, egal für welches Programm: zweieinhalb Proben. Dann kann man doch nur noch schreien über eine solche Blüte des Kapitalismus… Ja, was noch? Natürlich, dass die großen Institutionen wie die Opernhäuser und Philharmonischen Orchester einfach selbstverständlich auch heute noch einen Anteil zeitgenössischer Musik und nicht nur Uraufführungen optimal zur Aufführung bringen könnten.
nmz: Wenn du noch viel Zeit hättest – und wir wünschen dir ja alle, dass du sie noch hast – was würdest du weiter verfolgen, wo brennt dein Herz?
Huber: Die diesjährige Häufung der Preise hat auch eine gefährliche Seite. Da ist zuerst mal die Riesenfreude, aber es hat auch einen Zwang zu Folge, dass sich alles um mich dreht.Ich habe gerade einen befristeten Auftrag absagen müssen. Ja doch, weiter komponieren: ich möchte vertiefen… vielleicht auch mal was ohne Auftrag, das heißt ohne jeden Zeitdruck schreiben können.
nmz: Kannst du dir nicht doch etwas vorstellen, was ganz woanders liegt?
Huber: Nein, oder vielleicht doch. Ich würde gerne Reisen machen in Länder und Kulturen, in denen ich noch nicht war, zum Beispiel nach Afrika.
nmz : Die beiden Preise sind sehr viel Geld. Was wirst du damit machen?
Huber: Sicher ist, dass ich den größten Teil spenden werde, ich will und kann nicht kapitalistisch über Preissummen denken. Besser: schenken! Dies nicht etwa nur in Richtung Musikkultur, sondern vor allem als Hilfe gegen den Welthunger und Verarmung.
nmz: Du hast fünf Kinder, zwölf Enkelkinder, einen Urenkel. Man kann ja davon ausgehen, dass in den Hochzeiten deiner Professur und deiner Arbeit für sie wenig Zeit war. Heute sieht das doch sicher anders aus, oder?
Huber: Ja, auf jeden Fall. Die Kinder und die größeren Enkelkinder kommen jetzt auf mich zu. Das ist ein Gewinn des Greisenalters, dass man dafür mehr Zeit hat. Aber für meine Kinder und Kindeskinder habe ich mir schon immer Zeit genommen.