Die Stadt München verlieh Nikolaus Brass den mit 10.000 Euro dotierten Musikpreis und würdigte damit „einen der aktuell interessantesten und eigenwilligsten Komponisten im deutschsprachigen Raum“ und darüber hinaus eine „bedeutende Persönlichkeit, die sich mit ihrem Handeln in die gesellschaftliche Wirklichkeit vielseitig einbringt“, wie es in der Begründung der Jury heißt. Franzpeter Messmer sprach mit dem Komponisten.
neue musikzeitung: Herr Brass, Sie sind Arzt und Komponist. Spiegelt sich in Ihrer Musik etwas vom Arztberuf wider?
Nikolaus Brass: Ich bin schon lange nicht mehr als Arzt tätig, sondern nur noch theoretisch mit Medizin befasst, verdiene mein Geld als Redakteur einer medizinischen Zeitschrift. Doch durch das Studium erhielt ich einen anderen Blick auf die Wirklichkeit und die menschliche Gebrechlichkeit.
nmz: Was bewegt Sie, wenn Sie komponieren?
Brass: Musik spiegelt etwas vom Leben wider, von Wachstums- und Absterbeprozessen, von Gestaltentstehung und -vergehen. Das schlägt sich in inneren Bildern, in Gestimmtheiten, in der Färbung von Klängen nieder. Dem lausche ich nach und versuche, ihm Gestalt zu geben. Dies ist kein konstruktivistisches Komponieren, sondern ein Herangehen an die Musik, das aus kleinen Partikeln größere Wesenheiten entstehen lässt.
nmz: Ihre Musik geht sparsam mit Tönen um. Ist das Ihre Reaktion auf die Überhäufung des heutigen Menschen mit Schall?
Brass: Mein Ideal ist, dass sich der Zuhörer bewusst wird: Ich höre. Ich schaffe ihm einen Raum, in dem ihm bewusst wird, was er hört, in dem er dem Gehörten folgen kann und erkennt, dass er eine wertvolle Wesenheit wahrnimmt, die nicht für irgendetwas benutzt wird, sondern für sich als etwas ganz Außerordentliches erklingt. Ich versuche, dem Hörer seine eigene Sensibilität wiederzugeben.
nmz: Was bedeutet „Zeit“ für Sie, wenn Sie komponieren?
Brass: Zeit ist verbunden mit Lebensprozessen: Mein Leben, mein Wahrnehmen, mein Dasein findet immer in der Zeit statt. Die Musik ist insofern ein ungeheurer Spiegel. Die Form eines Musikstückes hat im weitesten Sinn auch etwas mit der Form eines Lebens zu tun. Meine Fragen zielen darauf ab, der Zeit nachzulauschen: Wie viel Zeit braucht ein Ereignis, um als das, was es ist, in Erscheinung zu treten?
nmz: Wie ist die Reaktion des Publikums auf Ihre Musik, etwa jüngst, als Ihr Werk bei den „Internationalen Weingartener Tagen für Neue Musik“ im Zentrum stand?
Brass: Bei diesem Festival gibt es eine Tradition der Neugier und der Offenheit. Ich lege Wert darauf, auch verbal mit dem Publikum in Kontakt zu treten, um den Hörer aus seiner Welt abzuholen und zur eigenen Musik hinzuführen und dann zu schauen, wie das wirkt. So habe ich sehr viele positive Erfahrungen gemacht, vor allem mit einem nicht spezialisierten Publikum.
nmz: Wie wurden Sie von Peter Kiesewetter geprägt, dessen Schüler Sie waren?
Brass: Je älter ich werde, desto mehr merke ich, wie tief mich Peter Kiesewetter geprägt hat. Als ich ihm im Alter von Anfang zwanzig begegnete, habe ich viel über den Zeitaspekt der Musik und die Bedeutung des einzelnen musikalischen Moments gelernt. Ich habe auch gelernt, musikalisches Material nicht irgendwie zu benützen, sondern in seiner Essenz wahrzunehmen. Ihm verdanke ich die Kenntnis der Musik, vor allem der alten Musik.
nmz: Welche anderen Komponisten haben Sie geprägt?
Brass: Nach Peter Kiesewetter war es Helmut Lachenmann, dessen konstruktivistisches Herangehen für mich ein wichtiges Korrektiv war. Auch prägte mich sein Denken, das die Rolle des Komponisten und den Musikbetrieb kritisch hinterfragte. Die dritte entscheidende persönliche Begegnung war Morton Feldman. Die Sensibilität in seiner Musik, auch seine Sensibilität sich selbst gegenüber, beeindruckte mich.
Kompromisslos die Dinge zu machen, die man selbst in sich fühlt, und nicht Trends zu folgen, sondern zurück ins Kleine, zurück zu sich selbst zu gehen, das alles ermutigte mich zu meinem eigenen Weg.
nmz: Sie erheben Ihre Stimme auch in der Diskussion über zeitgenössische Musik, beispielsweise hier in der nmz. Welche Rolle sehen Sie für sich als Komponist im gegenwärtigen Musikbetrieb?
Brass: Ich versuche, auf Authentizität Wert zu legen. Wir haben nur eine Daseinsberechtigung, wenn wir authentisch sind, wenn wir etwas vermitteln, was mit uns und unserem Leben zu tun hat. Darin liegt die Bedeutung und die Chance der Neuen Musik. Ich suche das nichtprofessionelle Publikum. Wir brauchen viele kleine Inseln, wo wir mit unserer Musik hingehen, weg von den großen subventionierten Neue-Musik-Festivals, bei denen ich eine Krise sehe. Wir müssen hinein ins Musikleben diffundieren, dahin, wo die Menschen sind. Das ist mein Thema.