Vor Richard Wagner gibt es heuer kein Entrinnen: Kaum ein Theaterspielplan kommt im Jubiläumsjahr ohne ihn aus, kein Festival mag auf die Zugkraft des allgegenwärtigen Tonsetzers verzichten, Feuilletons und Fachmagazine überschlagen sich in wortreichen Würdigungen, Wertungen und Widmungen. Allerorten wird also über Richard Wagner geredet, die neue musikzeitung hat indes versucht, mit ihm zu reden. Um die Gesprächsführung bemühte sich Juan Martin Koch.
neue musikzeitung: Herr Wagner, vor zwei Jahren sprachen wir mit Ihrem Schwiegervater Franz Liszt unter anderem über den „Wunsch nach Veränderung“ im Musik- und Kulturleben unserer Zeit (nmz 9/2011). Was hat sich seitdem aus Ihrer Sicht getan?
Richard Wagner: Der Kampf des Menschen gegen die bestehende Gesellschaft hat begonnen. Dieser Kampf, er ist der heiligste, der erhabenste, der je gekämpft wurde, denn er ist der Kampf des Bewußtseins gegen den Zufall, des Geistes gegen die Geistlosigkeit, der Sittlichkeit gegen das Böse, der Kraft gegen die Schwäche: Es ist der Kampf um unsere Bestimmung, unser Recht, unser Glück. Das Bestehende, es hat große Gewalt über den Menschen. Unsere bestehende Gesellschaft hat eine furchtbare Macht über uns, denn sie hat absichtlich das Wachsthum unserer Kraft gehemmt. Die Kraft zu diesem heiligen Kampfe kann uns nur erwachsen aus der Erkenntniß der Verworfenheit unserer Gesellschaft. Wenn wir klar erkannt haben, wie unsere bestehende Gesellschaft ihrer Aufgabe widerspricht, wie sie gewaltsam und oft vorsätzlich uns abhält, unsere Bestimmung, unser Recht, unser Glück zu erlangen, dann haben wir auch die Kraft gewonnen, sie zu bekämpfen, sie zu besiegen. Unsere erste, wichtigste Aufgabe ist es daher: das Wesen und das Wirken unserer bestehenden Gesellschaft nach allen Seiten hin zu prüfen und immer klarer zu erfassen; ist sie einmal erkannt, dann ist sie auch gerichtet! (1) Jedoch, was haben wir diese moderne Welt näher zu beleuchten nöthig, um für uns herauszufinden, daß nichts von ihr zu hoffen sei? Sie wird immer und unter jeder Form, solchen Wünschen, wie wir sie für die Pflege einer edelen Kunst hegen, feindselig sein, weil sie gerade das, was wir wollen, nicht will. (2)
Das blutig schwere Werk der Bildung
nmz: Woher nehmen Sie in einem solch feindseligen Umfeld die Motivation zu komponieren?
Wagner: Nur mit wahrer Verzweiflung nehme ich immer wieder die Kunst auf: geschieht dieß, und muß ich wieder der Wirklichkeit entsagen, – muß ich mich wieder in die Wellen der künstlerischen Phantasie stürzen, um mich in einer eingebildeten Welt zu befriedigen, so muß wenigstens meiner Phantasie auch geholfen, meine Einbildungskraft muß unterstützt werden. Ich kann dann nicht wie ein Hund leben, ich kann mich nicht auf Stroh betten und mich in Fusel erquicken: meine stark gereizte, feine, ungeheuer begehrliche, aber ungemein zarte und zärtliche Sinnlichkeit, muß irgendwie sich geschmeichelt fühlen, wenn meinem Geiste das blutig schwere Werk der Bildung einer unvorhandenen Welt gelingen soll. (3)
nmz: Womit wir indirekt auch bei der kulturellen Bildung angelangt wären …
Wagner: Der täglich wahrgenommene und bitter beklagte Abstand zwischen sogenannter Bildung und Unbildung ist so ungeheuer, ein Mittelglied zwischen beiden so undenkbar, eine Versöhnung so unmöglich, daß, bei einiger Aufrichtigkeit, die auf jene unnatürliche Bildung begründete moderne Kunst zu ihrer tiefsten Beschämung sich eingestehen müßte, wie sie einem Lebenselemente ihr Dasein verdanke, welches sein Dasein wiederum nur auf die tiefste Unbildung der eigentlichen Masse der Menschheit stützen kann. Das Einzige, was in dieser ihr zugewiesenen Stellung die moderne Kunst vermögen sollte und in redlichen Herzen zu vermögen strebt, nämlich Bildung zu verbreiten, vermag sie nicht, und zwar einfach aus dem Grunde, weil die Kunst, um irgendwie im Leben wirken zu können, selbst die Blüthe einer natürlichen, das heißt von unten herausgewachsenen, Bildung sein muß, nie aber im Stande sein kann, von oben herab Bildung auszugießen. Im besten Falle gleicht daher unsere Kulturkunst demjenigen, der in einer fremden Sprache einem Volke sich mittheilen will, welches diese nicht kennt: Alles, und namentlich auch das Geistreichste, was er hervorbringt, kann nur zu den lächerlichsten Verwirrungen und Missverständnissen führen. (4)
„Wir haben die ganze Presse gegen uns“
nmz: Was wohl auch an unserem Schulsystem liegt, mit seinem Schwerpunkt bei den Naturwissenschaften.
Wagner: Wenn unsere Wissenschaft, der Abgott der modernen Welt, unseren Staatsverfassungen so viel gefunden Menschenverstand zuführen könnte, daß sie zum Beispiel ein Mittel gegen das Verhungern arbeitsloser Mitbürger auszufinden vermöchte, müßten wir sie am Ende im Austausche für die impotent gewordene kirchliche Religion dahin nehmen. Aber sie kann gar nichts. Und der Staat steht mit seiner gesellschaftlichen „Ordnung“ im erweiterten Gesichtskreise da wie ein verlorenes Kind, und hat nur die eine Sorge, zu verhindern, daß es etwa anders werde. Hierfür rafft er sich zusammen, giebt Gesetze und vermehrt die Armeen: die Tapferkeit wird disziplinarisch ausgebildet, womit dann in vorkommenden Fällen die Ungerechtigkeit gegen übele Folgen beschützt wird. (5)
nmz: Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Medien?
Wagner: Wir haben die ganze Presse gegen uns, was sehr natürlich ist: für sich hat sie nur der, welcher sie für sich materiell interessirt. Alle Gewalthaber dieser Welt, von den höchsten bis zu den niedrigsten Mächten, haben ihre Vertreter, ihre Organe in der Presse. Ueberzeugung ist hier nichts, Interesse Alles. (6)
nmz: Sehen Sie einen Ausweg?
Wagner: Wir müssen uns ein Organ in der Tagespresse gründen. Schon in meinem Bericht über die Musikschule habe ich die Nothwendigkeit der Gründung eines specifischen Presseorganes für dieselbe nachgewiesen. Diess muss jetzt unverzüglich in das Werk gesetzt werden, und zwar ohne irgend welchen Zeitverlust. (7)
nmz: Interessant, wir hätten da auch den einen oder anderen Vorschlag anzubringen …
Wagner: Ich wünschte, dass dieses Blatt vom 1. Januar des nächsten Jahres an erscheint. Bereits habe ich mich darüber berathen. Die Kosten eines solchen wöchentlich erscheinenden Journales sind nicht bedeutend: ich habe mir von Sachverständigen eine Berechnung machen lassen, nach welcher mit 3000 fl. diese Zeitschrift zu begründen und bis dahin zu unterhalten wäre, wo sie sich dann durch ihren eigenen Absatz selbst unterhalten muss. In der billigen Voraussetzung, dass mir die Creirung der Musikschule anvertraut werden würde, hatte ich auch bereits die Bestellung der Redaction dieses Journales bedacht. (8)
Vom Drama durchleuchtetes Kunstschaffen
nmz: Das werden wir aufmerksam verfolgen … Nochmal zurück zur Stellung der Kunst und der Musik: Als ein wichtiges Mittel zu deren Verankerung in der Gesellschaft rückt ja seit einiger Zeit die Vermittlung in den Mittelpunkt. Zu Recht?
Wagner: Jede Kunstart theilt sich verständlich nur in dem Grade mit, als der Kern in ihr, der nur durch seinen Bezug auf den Menschen oder in seiner Ableitung von ihm das Kunstwerk beleben und rechtfertigen kann, dem Drama zureist. Allverständlich, vollkommen begriffen und gerechtfertigt wird jedes Kunstschaffen in dem Grade, als es im Drama aufgeht, vom Drama durchleuchtet wird. (9)
nmz: Das bezieht sich nun vor allem auf Ihr eigenes Schaffen. Kann Ihre Konzeption des musikalischen Dramas denn Allgemeingültigkeit beanspruchen?
Wagner: Wer mich so verstanden hat, als wäre es mir darum zu thun gewesen, ein willkürlich erdachtes System aufzustellen, nach dem fortan Musiker und Dichter arbeiten sollten, der hat mich nicht verstehen wollen. Wer ferner aber glauben will, das Neue, was ich etwa sagte, beruhe auf absoluter Annahme und sei nicht identisch mit der Erfahrung und der Natur des entwickelten Gegenstandes, der wird mich nicht verstehen können, auch wenn er es wollte. Das Neue, das ich etwa sagte, ist nichts Anderes als das mir bewußt gewordene Unbewußte in der Natur der Sache, das mir als denkendem Künstler bewußt ward, da ich das nach seinem Zusammenhange erfaßte, was von Künstlern bisher nur getrennt gefaßt worden ist. Ich habe somit nichts Neues erfunden, sondern nur jenen Zusammenhang gefunden. (10)
nmz: Hm … Haben Sie denn den Eindruck, dass Ihre Auffassung sich mittlerweile durchgesetzt hat?
Wagner: Die gänzliche Unmündigkeit des Theaterpublikums unserer Provinzstädte in Bezug auf ein zu fällendes erstes Urtheil über eine neue, ihm vorkommende Kunsterscheinung, – da es eben nur gewöhnt ist, bereits auswärts beurtheilte und accreditirte Werke sich vorgeführt zu sehen, – brachte mich zu dem Entschluß, um keinen Preis an kleineren Theatern eine größere Arbeit zur ersten Aufführung zu bringen. (11)
Verwahrlostes öffentliches Kunstgebiet
nmz: Das erscheint mir ein allzu pauschales Urteil …
Wagner: Bei der vollkommenen Styllosigkeit der deutschen Oper, und der fast grotesken Inkorrektheit ihrer Leistungen, ist die Hoffnung, an einem Haupttheater für höhere Aufgabe geübte Kunstmittel korporativ anzutreffen, nicht zu fassen: der Autor, der auf diesem verwahrlosten öffentlichen Kunstgebiete eine ernstlich gemeinte, höhere Aufgabe zu stellen gedenkt, trifft zu seiner Unterstützung nichts an, als das wirkliche Talent einzelner Sänger, welche in keiner Schule unterrichtet, durch keinen Styl für die Darstellung geleitet, hie und da, selten – denn das Talent der Deutschen hierfür ist im Ganzen gering – und gänzlich sich selbst überlassen, vorkommen. Was daher kein einzelnes Theater bieten kann, vermöchte, glücklichen Falles, nur eine Vereinigung zerstreuter Kräfte, welche für eine gewisse Zeit, auf einen bestimmten Punkt zusammengerufen würden. (12)
nmz: Welche Rolle spielen dabei die baulichen Gegebenheiten der Theater?
Wagner: Die Aufgabe des Theatergebäudes der Zukunft darf durch unsere modernen Theatergebäude keinesweges als gelöst angesehen werden: in ihnen sind herkömmliche Annahmen und Gesetze maaßgebend, die mit den Erfordernissen der reinen Kunst nichts gemein haben. Wo Erwerbsspekulation auf der einen, und mit ihr luxuriöse Prunksucht auf der anderen Seite bestimmend einwirken, muß das absolute Interesse der Kunst auf das Empfindlichste beeinträchtigt werden, und so wird kein Baumeister der Welt zum Beispiel es vermögen, die durch die Trennung unseres Publikums in die unterschiedensten Stände und Staatsbürgerkategorien gebotene Übereinanderschichtung und Zersplitterung der Zuschauerräume zu einem Gesetze der Schönheit zu erheben. Denkt man sich in die Räume des gemeinsamen Theaters der Zukunft, so erkennt man ohne Mühe, daß in ihm ein ungeahnt reiches Feld der Erfindung offen steht. (13)
nmz: Was sagen Sie zum Zustand der Orchester, deren Bestand immer wieder gefährdet erscheint. Welche Funktion erfüllen sie heute?
Wagner: Das Orchester besitzt unläugbar ein Sprachvermögen, und die Schöpfungen unserer modernen Instrumentalmusik haben uns dieß aufgedeckt. Wir haben in den Symphonieen Beethoven‘s dieß Sprachvermögen zu einer Höhe entwickeln gesehen, von der aus es sich gedrängt fühlte, selbst das auszusprechen, was es seiner Natur nach eben aber nicht aussprechen kann. Jetzt, wo wir in der Wortversmelodie ihm gerade das zugeführt haben, was es nicht aussprechen konnte, und ihm als Träger dieser ihm verwandten Melodie die Wirksamkeit zuwiesen, in der es – vollkommen beruhigt – eben nur das noch aussprechen soll, was es seiner Natur nach einzig aussprechen kann, – haben wir dieses Sprachvermögen des Orchesters deutlich dahin zu bezeichnen, daß es das Vermögen der Kundgebung des Unaussprechlichen ist. (14)
Geile moderne Opernmusik und andere Auswüchse
nmz: Beethoven – schön und gut, aber die „moderne Instrumentalmusik“ ist ja nun doch schon ein Stückchen weiter. Wie schätzen Sie die aktuelle Komponistenszene ein?
Wagner: Nur der Unfähige, Schwache, kennt kein nothwendigstes, stärkstes Seelenverlangen in sich: bei ihm überwiegt jeden Augenblick das zufällige, von außen gelegentlich angeregte Gelüsten, das er, eben weil es nur ein Gelüsten ist, nie zu stillen vermag, und daher, von Einem zum Anderen willkürlich hin und her geschleudert, selbst nie zum wirklichen Genießen gelangt. Hat dieser Bedürfnißlose aber die Macht, die Befriedigung zufälliger Gelüste hartnäckig zu verfolgen, so entstehen eben die scheußlichen, naturwidrigen Erscheinungen im Leben und in der Kunst, die uns als Auswüchse wahnsinnigen egoistischen Treibens, als mordlustige Wollust des Despoten, oder als geile moderne Opernmusik, mit so unsäglichem Ekel erfüllen. (15)
nmz: Wen Sie mit dieser Diagnose konkret im Sinn haben und warum, können wir vielleicht ein andermal erörtern. In unserem Zusammenhang wäre jedoch interessant, welche Therapie Sie vorschlagen.
Wagner: Das unerhörte Daniederliegen unsrer jetzigen deutschen Binnen-Komponisten hat mich zunächst auf das aufmerksam gemacht, was jetzt zu ergreifen ist: (16) Schafft Euch, Ihr unglücklichen Menschen, eine gesunde Verdauung an, und plötzlich steht das Leben in einer ganz anderen Gestalt vor Euch, als ihr aus der Unterleibsplage heraus es ersehen konntet! Wahrlich, all unsre Politik, Diplomatie, Ehrsucht, Ohnmacht und Wissenschaft, und – leider auch – unsre ganze moderne Kunst, in denen man den Gaumen zum Verderb des Magens so lange einzig befriedigt, gereizt, und wieder zu schmeicheln versucht hat, bis endlich unvermerkt nur noch ein Leichnam galvanisirt wurde, – wahrlich, diese ganzen Schmarotzergewüchse unsres heutigen Lebens haben keinen andren Grund und Boden, aus dem sie wachsen, als – unsre ruinirten Unterleibe! Ach! wollte und könnte mich jeder verstehen, dem ich dieß – fast lächerlich klingende – und doch so entsetzlich wahre Wort zurufe! – Jetzt merke ich aber, daß ich vom hundertsten in das tausendste gerathe: so will ich endlich denn schließen! (17)
nmz: In der Tat, auch ist der Platz in unser Monatsschrift begrenzt …
Wagner: Vor Allem muß ich aber auch Geld haben: (18) Könnten Sie mir sogleich, oder doch in einigen Tagen 100 Taler zu beliebigen Prozenten … (19)
nmz: … hier müssen wir leider abbrechen, Herr Wagner. Besten Dank für dieses Gespräch!
Montage: Juan Martin Koch
Alle Antworten sind Originalzitate aus Wagners Briefen und Schriften.
(1) SuD, Bd. 12, S. 241 f.
(2) SuD, Bd. 10, S. 124 f.
(3) SB, Bd. 5, S. 495
(4) SuD Bd. 3, S. 149
(5) SuD Bd. 10, S. 124
(6) BW-Ludwig II. Bd. 4, S. 6
(7) BW-Ludwig II. Bd. 4, S. 6 f.
(8) BW-Ludwig II. Bd. 4, S. 6 f.
(9) SuD Bd. 3, S. 154
(10) SuD Bd. 4, S. 205
(11) SuD Bd. 1, S. 12
(12) SuD Bd. 6, S. 273 f.
(13) SuD Bd. 3, S. 160
(14) SuD Bd. 4, S. 173
(15) SuD Bd. 3, S. 158
(16) SB Bd. 1, S. 324
(17) SB Bd. 4, S. 192
(18) SB Bd. 5, S. 497
(19) SB Bd. 2, S. 444
Abkürzungen:
SuD Richard Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, 16 Bände. Leipzig o.J. [1911].
SB Richard Wagner: Sämtliche Briefe. Herausgegeben von der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth, 16 Bände. Leipzig u.a. 1967 ff.
BW-Ludwig II. König Ludwig II. und Richard Wagner. Briefwechsel. Mit vielen anderen Urkunden in vier Bänden herausgegeben vom Wittelsbacher Ausgleichs- Fonds und von Winifred Wagner, bearbeitet von Otto Strobel, 5 Bände. Karlsruhe 1936