Hatte H. Johannes Wallmann mit seinem letzten großen Werk SOLO-UNIVERS vor allem eine musikalische Ausarbeitung seines „Integrale Moderne“ genannten Konzepts einer universellen Kunst für eine ganzheitliche Wahrnehmung vorgestellt, präsentierte er sich mit seinem Zyklus auf Lyrik von Jürgen Fuchs, dem allzu früh verstorbenen DDR-Dissidenten, sowie Texten anderer Herkunft unter dem Titel „Ich schweige nicht“ als scharf konturierter politischer Komponist. Uraufgeführt am 3. Oktober 2014, dem Tag der deutschen Einheit, in der Gethsemane-Kirche in Berlin-Prenzlauer Berg, wo genau vor 25 Jahren die Ostberliner Intelligenz aus Bürgerrechtlern und Oppositionellen eine neue DDR-Demokratie erträumte, geht es weit über eine Nostalgie der Bitternis hinaus.
Die Mittel waren äußerst ökonomisch und effektiv: Vier im Carré auf den Emporen platzierte Saxophone (auch Klarinetten), Bariton (Matthias Vieweg) und Orchesterschlagzeug (Adam Weisman) auf der Bühne des Altarraums sowie eine Sopranistin (Katharina Hohlfeld) im hinteren Teil des Auditoriums schufen unter dem 360-Grad-aufmerksamen Dirigat von Lennart Dohms ein klangräumliches Kontinuum, das mit großer Sensibilität auf die deprimierten Feststellungen des Dichters über die Absurditäten des Unterdrückungsstaates reagierte.
Aber anders, als der in der Aufstellung ähnliche Reiner-Kunze-Zyklus „Der Blaue Vogel“ von 2009, war dieses Werk nicht das Porträt einer Sichtweise, sondern verband sich mit der aktuellen Bedrohung einer neuen, alles kontrollierenden Überwachung, die vielleicht nur einen Schritt entfernt ist von Restriktion und Aufhebung der Bürgerrechte – durch Staat oder durch Konzerne.
Die Komposition, die sich in 25 Abschnitten und über 100 Minuten erstreckte, faszinierte durch ihre ungemeine Konzentration auf das Ausdrucksspektrum zwischen innerer Aufruhr, Schmerzlichkeit und verzweifelter Sehnsucht. Wallmann selbst beschreibt seine Kompositionsmethode als eine Art freier Kombinatorik, und die Wahl der jeweiligen Elemente, Rhythmus, Melodik, harmonische und Raumklang-Gestaltung, arbeitete der Identifizierung der Klänge mit dem verzweifelten Tiefsinn der Texte entgegen. Es ist Wallmanns Talent, mit seiner Musik die adaptierende Phantasie auch eines avantgardefernen Publikums zu entflammen.
Die weit voneinander aufgestellten Saxophone/Klarinetten folgten den Gesängen mit eng sich reibenden Harmonien, mitunter an Möwengeschrei erinnernd – und Vögel und Meer waren ja Bilder der Sehnsucht nach Freiheit in den Zeiten der kollektiven Gefangenschaft. Zur Aufführung gehörte auch eine Bildebene, eine Folge von poetischen und dokumentarischen höchst trostlosen Photos des DDR-Chronisten Harald Hauswald, projiziert auf eine auf die Bühne gestellte Leinwand. Die Bilder repräsentierten so das Gefangensein, die Musik die Freiheit des weiten Himmels.
Durch die immer neue Umsetzung des begrenzten Materials erlahmte das Interesse an Wallmanns rätselhaft anziehender Harmoniemusik nie. Sie sensibilisiert den Hörer auf ein relativ enges Ausdruckssegment, und so werden Steigerungen der Intensität dramatisch erlebbar.
Jürgen Fuchs’ Lyrik sei Erlebnisdichtung, stellte im Einführungsgespräch der Fuchs-Biograph Ernest Kuczynski fest, und tatsächlich lud die Kombination der teils zum Mitlesen projizierten Texte, Gesänge und mütterlich bergender, tränensüßer Musik zum Nachfühlen des Innenlebens einer staatlich ruinierten Biographie ein. Aber so, wie die Musik im Raum nicht abgeschlossen ist, so blieb – nicht nur durch die bloße Erwähnung des derzeit bekanntesten Nicht-Schweigers Edward Snowden – auch die Geschichte nicht in ihrem Grabe ruhend. Denn was jemals war, bleibt immer möglich. Das besondere Verdienst Wallmanns in dieser Komposition war, dass er die Erkenntnis einer Bedrohung der bürgerlichen Freiheit und der Demokratie nicht schreiend vorbrachte, sondern mit Sanftheit. Und waren nicht auch Fuchs und andere Dissidenten sanft? Gewaltfrei im Widerstand und die Schmach erduldend?
Obwohl etwas abgedroschen und mit den megalomanischen Großwerken Richard Wagners und Karlheinz Stockhausens besetzt, trifft auch auf Wallmanns demgegenüber bescheidenen Stück der Begriff „Gesamtkunstwerk“ zu, es aktualisiert diesen sogar. Denn nicht nur weist „Ich schweige nicht“ eine „integrale“ Vereinigung mehrerer Medien – Musik, Text, Raum, Bild – auf, es fügt die Sphäre des Politischen oder Gegenwartshistorischen hinzu, welche das Publikum ebenso unmittelbar berührt. Ein musikalischer Tatsachenbericht des Seelenlebens. Wallmann lässt sein Werk nicht abseits vom Strom der Zeit liegen. Auch verliert er sich nicht in Utopismus, sondern öffnet den Vorhang auf die unausgestandenen Übel der Vergangenheit und Bedrohungen der Gegenwart. Er predigt nicht, sondern lässt beobachten. Deswegen kann seine Musik so sanft sein und muss nicht schreien. Er überlässt das Betroffensein seinem Publikum. Das macht ein Meisterwerk aus.
Infos: www.ich-schweige-nicht.de
Aufführungen
5.11.2014, 19 Uhr, Hafencity-Universität Hamburg
Konzert mit dem Jürgen-Fuchs-Zyklus von H. Johannes Wallmann
6.11.2014 ab 10 Uhr, Hafencity-Universität Hamburg: ICH SCHWEIGE NICHT-Symposium
9.11.2014, 19.30 Uhr, Dreikönigskirche Dresden
Konzert mit dem Jürgen-Fuchs-Zyklus von H. Johannes Wallmann
10.11.2014 ab 10 Uhr TU Dresden: ICH SCHWEIGE NICHT-Symposium