Ein unbekannter Pianist: „Herr Professor Marcuse, Sie haben mit Nachdruck die Behauptung vertreten, daß das subversive Potential der Musik durch die Wettbewerbe und insbesondere durch die Klavierwettbewerbe entschärft und unschädlich gemacht wird.“
Ein unbekannter Pianist: „Herr Professor Marcuse, Sie haben mit Nachdruck die Behauptung vertreten, daß das subversive Potential der Musik durch die Wettbewerbe und insbesondere durch die Klavierwettbewerbe entschärft und unschädlich gemacht wird.“ Herbert Marcuse: „Weil die Wettbewerbe, am meisten die amerikanischen, am kapitalistischen Warenmarkt und nicht im utopischen Bereich des Schönen ausgetragen werden. Als solche sind sie eine Metapher des kommerziellen Wettstreits, der die Reichen reicher und die Armen ärmer macht. Sie sind vom Warenfetischismus und vom technologischen Fortschritt verdorben.“Ein unbekannter Pianist: „Aber die Ware, die Sie meinen, hat in den Klavierwettbewerben keinen Marktwert, spielen doch die meisten Pianisten in ihnen für weniger als gar nichts.“
„Überproduktivität zum Nulltarif ist der nutzloseste aller Mehrwerte. Sie erzeugt einen Überfluß an Langeweile und bewirkt den bedenklichsten ästhetischen Überdruß.“
Ein unbekannter Pianist: „Sie meinen, daß die Wettbewerbs-Pianisten keiner Utopie, keiner künstlerischen Perspektive, keiner Innovation mehr fähig sind?“
„In den Wettbewerben, und insbesondere in den Klavierwettbewerben, ist der Protest gegen die Warengesellschaft durchs Gewöhnliche und Routinierte zum Verstummen gebracht, denn es haben in ihnen die wiederholten Gemeinplätze und die akademischen Konventionen überhand genommen.“
Ein unbekannter Pianist: „Eine düs-tere Vision, Herr Professor! Sie meinen, da die Wettbewerbe weder Geld noch Geist zutage fördern, sind sie selbst zum Überfluß in der Überfluß-Gesellschaft geworden?“
„So ist es: auf die Wettbewerbe konzentriert sich der Pianist nur noch um des Wettbewerbs willen, übt der Klavierspieler nur noch um des Übens willen, wetteifert der Konkurrent nur noch um der Konkurrenz willen. Er vollbringt sozusagen zwecklose und geistig vollkommen sinnlose Handlungen. Er produziert und inszeniert sich selbst.“
Ein unbekannter Pianist: „Eine erschreckende Perspektive! Herr Professor, Sie beschreiben ein Kunst-Labyrinth, eine Geisteskrise ohne Ausweg!“
„Die strenge Reglementierung des künstlerischen Auftritts, die Zwangsjacke der sportlichen Durchgänge und am meisten die Veräußerlichung durch mondäne Rituale lassen weder dem Schönen noch der Utopie eine Chance.“
Ein unbekannter Pianist: „Aber noch ist das revolutionäre Potential aus den Werken nicht entwichen. Die Vision eines utopischen Daseins, einer ästhetischen Gesellschaft ist in den Meisterwerken, insbesondere in jenen pianis-tischen der Klavier-Wettbewerbe, noch spürbar lebendig.“
„Aber nicht in der sportlichen Austragung von Kunst! Der Mensch, müssen Sie wissen, ist das einzige Wesen, das die Gesetze der Schönheit anerkennt. Aber die ästhetische Dimension ist keine technische, sondern eine durch und durch spielerische, interesselose, unpraktische, verrückte, keine von Langlauf und Hochsprung!“
Ein unbekannter Pianist: „Eine herzliche Warnung an die Wettbewerbs-Veranstalter, Herr Professor, und eine desperate an die Wettbewerbs-Teilnehmer! Woran soll sich der junge Klaviermensch da noch halten?“
Auszug aus dem Buch „Mephisto Walzer oder Der Tanz der Klaviere“ von Hubert Stuppner, erschienen 1995 bei der ConBrio Verlagsgesellschaft. Der Autor ist langjähriger Leiter des Inter-nationalen Pianistenwettbewerbes „Feruccio Busoni“.