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Schüler des Heikendorfer Heine-Gymnasiums und ihr Stück „Her Pst un Wetter“. Fotos: Clemens Matuschek
Schüler des Heikendorfer Heine-Gymnasiums und ihr Stück „Her Pst un Wetter“. Fotos: Clemens Matuschek
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Die Blitze der Neuen Musik

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Im Projekt „Musiklabor“ der Kieler „chiffren“ komponieren Schulklassen Neue Musik
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Strahlend steht die Sonne am kristallenen Winterhimmel über dem beschaulichen Ostseebad Heikendorf an der Kieler Förde. Die Schüler des örtlichen Heinrich-Heine-Gymnasiums fiebern dem Wochenende entgegen. Im ersten Stock des schmucklosen 70er-Jahre-Baus aber, im Musikraum, bricht gerade ein ohrenbetäubender Gewittersturm los. Paukendonner rollt, grelle Geigenblitze zucken, von zwei Xylophonen stürzen Tonkaskaden nieder, Klangnebel wabert aus dem geöffneten Flügel, es klappert, heult und pfeift an allen Ecken und Enden. 15 Schüler bearbeiten ihr Instrumentarium mit einer Vehemenz, die selbst dem nordischen Blitz-und-Donner-Gott Thor zur Ehre gereicht hätte. Mittendrin im Getöse stehen der Musiklehrer Heino Tangermann und der Komponist Burkhard Friedrich und strahlen über das ganze Gesicht.

Die Schüler des Musik-Grundkurses der zwölften Klasse nehmen am musikpädagogischen Programm „Musiklabor“ teil, das vom Kieler Neue-Musik-Netzwerk „chiffren“ in Kooperation mit dem Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen in Schleswig-Holstein (IQSH) veranstaltet wird. Das Ziel: Jugendliche sollen im Rahmen praktischer Unterrichtsprojekte selbst komponieren und sich so mit Neuer Musik auseinandersetzen – jener Musiksparte also, die noch immer mit dem Vorurteil zu kämpfen hat, inhaltlich verkopft und klanglich ungenießbar zu sein. Seit 2008 gibt es die Initiative; Burkhard Friedrich ist zum ersten Mal dabei.

„Primär handelt es sich um ein Fortbildungsangebot für Lehrer“, erklärt der Hamburger Komponist. „Die wenigsten Lehrer haben sich ja mit Kompositionstechniken Neuer Musik jemals intensiver beschäftigt. Ich gebe ihnen in vier fünfstündigen Workshopterminen Konzepte an die Hand, wie sie mit ihren Schülern arbeiten können, und probiere das auch gleich mit ihnen aus. Ein Weg ist zum Beispiel die Cage-Methode: Wir gehen raus und nehmen irgendwelche Geräusche auf: Regen, Verkehrslärm, Wind. Dann imitieren wir die Geräusche mit den Instrumenten, die gerade zur Hand sind: ein Klavier, ein paar Geigen, Percussion. So tasten wir uns über Inspiration und Improvisation zur Komposition vor.“ Die Eigenkomposition der Schüler, betitelt „Herr Pst un Wetter“, basiert etwa auf einer Soundcollage herbstlichen Schietwetters.

Insgesamt neun Lehrer an sechs Schulen aus ganz Schleswig-Holstein haben an der Arbeitsphase im Herbst und Winter 2011 teilgenommen. Der Vorteil: Die Konzepte, die die Pädagogen während der Workshops erproben, setzen sie parallel mit ihren Schülern um. So können Erfahrungen und Probleme direkt im Fortbildungskurs besprochen werden. „Ein bundesweit einzigartiges Konzept“, betont Friedrich Wedell, der Leiter von „chiffren“. „Indem wir zunächst die Lehrer schulen, die dann als Multiplikatoren fungieren, sorgen wir für Nachhaltigkeit.“ Burkhard Friedrich reist zudem kreuz und quer durchs Land, besucht die Klassen und gibt hilfreiche Tipps – wie am heutigen Tage in Heikendorf. „An dieser Stelle hört man das Xylophon ja gar nicht“, diagnostiziert er etwa und überlegt zusammen mit Heino Tangermann und seinen Schülern, wie sich das ändern ließe. Schließlich handelt es sich nicht bloß um eine theoretische Übung: Das neu komponierte Stück wird im Rahmen eines großen gemeinsamen Abschlusskonzertes aller neun Gruppen auch einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. „Eine ganz wichtige Erfahrung für die Schüler“, meinen Lehrer und Komponist übereinstimmend. Hier erleben die Schüler, dass ihre künstlerische Arbeit ernst genommen und wertgeschätzt wird – eine wichtige Bestätigung, gerade bei Neuer Musik.

Denn vom Sinn ihres kompositorischen Tuns sind die Schüler zunächst nicht rückhaltlos überzeugt. Der 17-jährige Morten etwa räumt ohne Umschweife ein, er könne „mit dieser Art von Musik gar nichts anfangen. Ich möchte von Musik emotional berührt und mitgerissen werden, aber das klappt hier einfach nicht.“ Auf Unverständnis stößt insbesondere die Vorgabe, Melodien und Akkorde zu vermeiden: „Interessante Geräusche, ja, aber ich würde das nicht als Musik bezeichnen – es gibt ja weder Takte noch Töne.“ Katharina, ebenfalls 17, pflichtet bei: „Am Anfang war es schwer, sich damit zu identifizieren. Das ist ja keine Musik, das ist ja nur Draufrumgehämmer, haben wir gedacht.“

Klassische Vorurteile, die Burkhard Friedrich zur Genüge kennt: „Die erste Reaktion ist immer Abwehr. Die Schüler hängen eben durchgängig an einem Schönheitsbegriff, der locker 200 Jahre alt ist – da lösen die geräuschhaften Klänge der Neuen Musik natürlich heftige Diskussionen aus. Manche Schüler sehen sie geradezu als Bedrohung für das, was sie auf dem iPod haben.“ Trotzdem hält er die Fokussierung auf die vermeintliche Un-Musik für unerlässlich: „Sonst schreiben die Schüler sofort konventionelle Popsongs und lassen sich auf nichts anderes mehr ein – und das ist ja nicht Sinn der Sache.“ Besonders auffällig sei das in der neunten Klasse, „wo die Jugendlichen ja ohnehin auf anti gebürstet sind. Und selbst in einer Musikklasse wollten die Schüler ihre Komposition auf keinen Fall auf ihren eigenen Instrumenten spielen – als ob die durch Neue Musik beschädigt würden.“

Der pädagogisch versierte Komponist hat allerdings seine Methoden, die Schüler zu motivieren. „Wir begeben uns jetzt auf eine Reise nach Tibet“, sagt er etwa. „Klar, da kann man auch Cola trinken und Hamburger mampfen. Aber wir beschließen: Für drei Monate ernähren wir uns nur von tibetischer Nahrung.“ Aus Sicht von Heino Tangermann funktioniert das Konzept: „Als Musiklehrer kann ich lange erzählen, dass Neue Musik toll ist. Aber wenn ein leibhaftiger Komponist zu Besuch ist, der mit so viel authentischer Begeisterung bei der Sache ist, schafft das eine ganz andere Glaubwürdigkeit.“

Selbst der skeptische Morten erkennt schließlich an, dass der Effekt, mit einem Filzschlägel über die Klaviersaiten zu fahren, „schon ganz cool“ klingt. Und Katharina beobachtet: „Je mehr ich mich mit dieser Art von Musik beschäftige, desto mehr musikalische Details nehme ich wahr. Zum Beispiel: Welche Klänge passen gut zusammen? Inzwischen glaube ich, dass das doch Musik ist. Nur halt eine andere, als man so kennt. Auf jedem Fall macht sie Spaß!“

Etwa 150 Schüler haben an der aktuellen „Musiklabor“-Phase teilgenommen – überwiegend an Schulen mit gutbürgerlicher Klientel. Der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund „tendiert gegen Null“, wie Burkhard Friedrich bedauernd feststellt. Dabei sei doch gerade das Komponieren Neuer Musik ein ideales Mittel, Unterschiede in kultureller Prägung, Sozialisation und musikalischer Vorbildung zu nivellieren. „Man muss ja eben gerade kein Instrument beherrschen oder Noten lesen können“, schwärmt er, „alle haben die gleichen Voraussetzungen. Man braucht nur offene Ohren und einen Schuss Kreativität.“

Auch am Heinrich-Heine-Gymnasium ist die Situation vergleichsweise komfortabel. Alle Schüler des Musikkurses spielen ein Instrument oder singen – obwohl die Schule einen Musikschwerpunkt nur in der Unterstufe anbietet. Die 18-jährige Franziska etwa ist im Landesjugendorchester und im Landesjugendensemble für Neue Musik aktiv, das ebenfalls von „chiffren“ gefördert wird. Neue Musik findet sie „unglaublich interessant. Man lernt sein Instrument ganz neu kennen.“ Ob sich jetzt alle Mitschüler Burkhard Friedrich auf den iPod laden, bezweifelt sie zwar. „Aber vielleicht stoßen sie später im Leben mal darauf und denken, guck, das habe ich auch mal gemacht. Ist ja auch eine Form von Allgemeinbildung.“

Burkhard Friedrich – der in Hamburg das ähnlich konzipierte Projekt „Klangradar 3000“ aufbaute – setzt ebenfalls auf die Langzeitwirkung, auf Nachhaltigkeit. „Ich spüre schon, dass diese Erfahrung die Schüler verändert. Sie nehmen ihre Umwelt aufmerksamer wahr, entwickeln einen Sinn für Klänge, reflektieren ihre Vorstellungen und Werte.“ 

Und auch der Heikendorfer Musiklehrer Heino Tangermann zieht ein positives Fazit: „Am Anfang konnte sich ja keiner vorstellen, wie das laufen würde. Jetzt bin ich begeistert, wie sich die Sache entwickelt hat!“ Mit diesen Worten entlässt er seine Schüler in die winterliche Mittagssonne. Und ob sie es ihnen bewusst ist oder nicht: In ihnen zucken sie weiter, die Blitze der Neuen Musik.

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