Auf Frau Shuttle ist Verlass. Von ihrem Kölner Schreibtisch aus hatte sie alles geregelt. Wien, 10 Uhr 20. Der bestellte Taxifahrer ist pünktlich, Flug 4U 752 ebenfalls. „Geben’s mir des Sackerl“. Per Fernbedienung öffnet er den Kofferraum, lädt ein und braust los. Die Geschwindigkeitsgebote zwischen Schwechat und Zentrum interessieren ihn nicht. Gegenüber der Staatsoper macht er Halt, entlässt seine drei Fahrgäste und verschwindet zurück in Richtung Schwechat. Beim Portier wird gleich wieder ein Sackerl ausgehändigt, knallrot bedruckt und versehen mit den drei Buchstaben der einladenden Plattenfirma. Ein Carepaket für die nächsten zwei Tage. Mappe, Papier, CD-Box, DVD – und überall schaut uns Sir Simon entgegen. Dazu in Großlettern: „Beethoven. Symphonies“.
Noch bevor sich die Berliner dazu entschlossen hatten, Simon Rattle als Chef ihrer Philharmoniker zu inthronisieren, hatte dieser sich bereits mit den Wienern darauf geeinigt, sämtliche Symphonien Beethovens zu erarbeiten. Bereits bei den Salzburger Festspielen 1996 hatte die Expedition mit der „Pastorale“ begonnen. Mit eben dieser „Pastorale“ sollte das Projekt im März 2003 abgeschlossen und Vertretern von Presse und Handel präsentiert werden, eine Zweihundertschaft, eingeflogen aus Japan, den USA und natürlich aus Europa. Doch am ersten Tag blieb der Maestro unsichtbar. Zeit also, um sich den Türschildchen im Hotel zu widmen. Toscanini wohnte im dritten Stock, eine Etage tiefer logierten die Herren Mahler, Schalk und Böhm. Irgendwo steht auch Lorin Maazel angeschlagen. Hier ist die Welt zu Hause. Auf einmal biegt Peter Alward um die Ecke, Präsident von EMI Classic. Er lächelt, britisch, vornehm, herzlich. Schließlich sind wieder einmal alle gekommen, um sein wertvollstes Pferd im Stall zu beäugen. Simon, der Telegene, der „charming musician“, Evangelist einer ganzen Branche. Alward glaubt fest daran, dass einer wie Rattle dazu beitragen kann, den rumpelnden Karren Klassik wieder aus dem Graben zu ziehen. „Von ihm geht etwas aus wie seinerzeit von Karajan“. Die Leute seien verrückt nach ihm – und in Berlin könne man in den Warteschlangen für Retourkarten „immer mehr jüngere Leute“ entdecken.
Ausgerechnet dieser Querdenker und Aufrührer, dieser Experimentierer, der den Broadway und Jazz genauso in sein musikalisches Herz geschlossen hat wie Schönberg und Mahler, er präsentiert nun – ganz klassisch – die neun Beethoven-Sinfonien. Ob das mal gut geht? Der Abend bietet hinreichend Gelegenheit, die Situation zu erörtern: bei der „20er Marie“ in der Ottakringerstraße, im Heurigen außerhalb der Stadt, bei Hax’n und Krautsalat. Dafür haben sogar zwei Kollegen glatt den letzten „Rosenkavalier“-Akt sausen lassen, trotz ihrer Begeisterung für Marschallin Felicity Lott.
Am Sonntag, 11.25 Uhr, ist zur Pressekonferenz geladen. Bereits beim Frühstück wird Pünktlichkeit angemahnt. Das Programm sei eng. Wie also mag Rattle seinen Zugang zu Beethoven erklären? Ganz nüchtern. Er sei „sehr überrascht“ gewesen, als man ihm ausgerechnet dieses Projekt angeboten habe. „Meine erste Antwort war: ,Seid ihr verrückt?’“ Doch die Motive des Orchesters hätten ihn überzeugt. „Es ist die Idee, dass jedes gute Orchester ständig versucht, sich selbst zu erneuern und etwas zu finden, was außerhalb des eigenen Horizonts liegt.“ Die Wiener hungerten also nach Neuem. Doch steckt dieser Beethoven nun in frischem Lack? Auf jeden Fall wollte Rattle keine Musik fürs reine Wohlbefinden. „Wenn man sich beim Spielen einer Beethoven-Sinfonie völlig zufrieden fühlt, ist man bereits am Ziel vorbei geschossen.“ Unebenheiten, Stolpersteine wollen hörbar gemacht werden. Dafür hat Rattle einen eher kammermusikalischen Weg eingeschlagen. „Mein erster Bezugspunkt führte zu Karl Böhm, der die Sinfonien mit diesem Orchester wahrscheinlich am häufigsten dirigiert hat. Zu meiner Verblüffung ist Böhm der rhythmisch striktere Dirigent; oft musste ich die Holzbläser ermutigen, Phrasen flexibler, selbstbewusster zu gestalten.“ Prompt stellt sich die Frage nach der Verlässlichkeit von Beethovens Metronomvorgaben. Rattle bestätigt und widerlegt. Schließlich habe Beethoven auch darauf hingewiesen, dass jedes Gefühl sein eigenes Tempo hat. Außerdem müsse er sich nach den Randbedingungen richten, etwa nach den zur Verfügung stehenden Instrumenten und dem Klang des Raumes.
Im Nachbarraum gibt’s anschließend ein Meet-and-Greet mit dem Maestro, ein Guck und Schluck, bevor dieser sich zum Konzerthaus verabschiedet. Dort ist am frühen Nachmittag Probe. Doch Beethoven muss erstmal warten, die Noten lagern irrtümlicherweise im Musikvereinsgebäude. Ohnehin hält die Probe nicht viel Nennenswertes bereit. Die Hörner verstricken sich dauerhaft im Intonationsnetz, die Flöte näselt seltsam. Rattle hakt hier und dort nach, bessert auf, zu drei Viertel englisch, ein Viertel deutsch. „Pastorale“ – Arbeit nach Vorschrift. Während der Pause im Schubert-Saal klingeln schon wieder die ersten Handys. Die Redaktion in Tokio plant bereits für den nächsten Tag. Was soll die nachfolgende Aufführung noch ans Licht bringen?
Sie wird zum exemplarischen Ereignis. Sie fördert zutage, was über Jahre hinweg gewachsen ist. Bereits im Vorfeld der im Mai 2002 im Musikverein mitgeschnittenen Live-Einspielungen hatten Rattle und die Philharmoniker den Sinfonien-Zyklus in Berlin und Japan aufgeführt. Es ist dieser Spagat zwischen Freiheit und Pedanterie, zwischen Notendeutung und Notentreue, der diese Aufnahmen prägt. Der natürliche Atem und die Fähigkeit, Stimmungen zu erzeugen oder diese übergangslos zu transformieren, nähren den Verdacht, dass derzeit kaum ein Gespann Beethoven mit so viel Tiefsinn und Spiellust begegnen dürfte. Ebenso wird hörbar, wie sehr die Bemühungen der historischen Aufführungspraxis Pate gestanden haben. Doch daraus ergibt sich kein Mosaik aus epigonalen Versatzstücken, sondern eine in sich stimmige, aufregende, stets transparente und gleichermaßen überlegte wie spontane Beethoven-Deutung.
Eine Stunde später sieht man in Schwechat im Gewirr ein „Sackerl“ blinken, knallrot und mit drei Buchstaben. Ah, noch jemand aus der Runde. Aber na, des is doch der Simon. Auch er ist jetzt also im Besitz der neuen Beethoven-Box.
Beethoven: Sinfonien 1–9; Wiener Philharmoniker, Simon Rattle (2002).
EMI 5 CD 557 445