Schon seit langem werden die Defizite der Instrumentalpädagogik beklagt. Die Kritik an Notenfixiertheit, Körperferne und einseitiger Werk- und Technikorientierung zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Instrumentalpädagogik. (1)
Bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts werden die Ursachen dieser Defizite in spannungsvoller Breite untersucht. Zahlreiche Reformansätze zur Klavierpädagogik werden „im dichten Austausch zum zeitgeschichtlichen Kontext in didaktischen Entwürfen innovativ erprobt. (2) Als Reaktion auf herkömmliche, unkindliche und starre Unterrichtsmethoden treten das Prinzip der Anschauung, das Erlebnis, die Selbsttätigkeit und der Gemeinschaftsunterricht. (3) Die Abkehr vom virtuosen Spielideal impliziert eine Verlagerung der Didaktik auf musikalische Werte. Das Klavier wird zum Lern- und Unterrichtsinstrument. Klavierpädagogik heißt nun: „Musikerziehung unter wesentlicher Einbeziehung des Klavierspiels“. (4) Die pädagogische Aufgabe besteht darin, eine „Wegleitung zu musikalischer Bildung“ zu geben. (5) Als Qualitätskriterium „guten“ Unterrichts gelten fortan die erreichten musikalischen Fähigkeiten.
Im „Spielen, Lernen, Erfinden“ sucht das Klavier spielende Kind mit geöffneten Sinnen einen lebendigen Zugang zur Musik. Glücksgefühle, Schöpferfreuden, kombinatorische Phantasie, Experimentierlust und Spielfreudigkeit stehen im Zentrum. (6) Das Klavierspiel wird in die kindliche Spiel-, Erlebnis und Vorstellungswelt integriert und das Kind zunächst unbe-wusst und handelnd zu den Grundformen musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten geführt. (7)
Instrumentalspiel als ganzheitlicher, lustvoller Körperausdruck
Jaques-Dalcroze ermöglicht durch sein universell angelegtes musikpädagogisches Konzept Ende der 20er- und Anfang der 30er-Jahre die Entwicklung von bewegungs- und ausdrucksorientierten klavierdidaktischen Konzeptionen durch seine Schüler und Anhänger. Das starre Körpermodell des herkömmlichen Klavierunterrichts wird aufgelöst. Das Kind geht, hüpft, hopst und galoppiert im Unterricht. Es kann im „ganzen“ Körper ausleben, was es bewegt. Die ungehemmte Körperbewegung gilt als das musikalische Urerlebnis. Reaktions-, Spontaneitäts-, Konzentrations-, Lockerungs-, und Unabhängigkeitsübungen der Methode Jaques-Dalcrozes, die nun auch im Klavierunterricht Anwendung finden, führen zu Geistesgegenwart, Aktionsbereitschaft und Willensstärke und tragen damit zur gesamten harmonischen Entwicklung des Kindes bei.
Der Anfangsunterricht ist lebendig in Bewegungsspiele, Singen und die mehr bewusste Übertragung des Gesungenen auf das Klavier (damit die Entwicklung des Klavierspiels aus der inneren Klangvorstellung gewährleistet wird) und schließlich die eigene Verarbeitung des Gelernten in der Improvisation strukturiert. Alternierende Lernfelder sind auditives Lernen, Gedächtnistraining durch Auswendigspiel, Lesetraining, Gehör- und Fingerübungen, Vom-Blatt-Singen, Melodien harmonisieren, Transponieren, Etüden und fingertechnische Übungen und Schreibaufgaben.
Beobachtung und liebevolle Einfühlung
In der Klaviermethodik des Anfangsunterrichts dominiert ein in moderner Terminologie „schüler- und handlungsorientierter Unterricht“. Durch die ganzheitliche Orientierung und die Entwicklung schöpferischer Kräfte werden die Anlagen des Schülers in allen Dimensionen entwickelt. Schöpferische Prinzipien werden nicht nur beim Improvisieren, sondern vor allem auch in der phantasievollen Überwindung von Lernschwierigkeiten gesucht, ebenso wie in modern anmutenden Ansätzen problemlösenden Denkens in einem offenen Unterricht – auch mit Schülervorschlägen. Jede Äußerung des Schülers (es gibt also kein „richtig“ und „falsch“) trägt zu neuen Aufgabenstellungen bei. Die improvisierende und lebendige Ar-beitsweise im Unterricht stellt an den Lehrer weit höhere pädagogische Anforderungen als die Durcharbeitung eines stereotypen Lehrgangs und rückt seine Arbeit in die Nähe des künstlerischen Schaffens. Alles „Lehrhafte“ wird vermieden, methodische Hinweise sind allgemein gehalten und die enge Bindung an eine Klavierschule wird abgelehnt.
Die „Dynamik“ einer Unterrichtsstunde ergibt sich aus den spontanen Erfindungen der Schüler bzw. dem freien Erleben und Erarbeiten eines Musikstückes. (8) Die Effizienz des Unterrichtens beziehungsweise Beobachtens liegt in der Fähigkeit, sich auf den Schüler „liebevoll“ einzustellen. (9) Charakteristisch ist ein pädagogischer Optimismus, der an die vorhandenen Motive der Schüler anknüpft.
Entdecken, Probieren, Improvisieren und Kommunizieren
Das Improvisieren entwickelt sich zu einem zentralen künstlerischen und methodischen Prinzip im Klavierunterricht. Zunächst zielt es auf ein Vertrautwerden mit dem Instrument, dann kann die Verbindung mit bewegungstechnischen Elementen beziehungsweise körpereigener Spielmechanik im Mittelpunkt stehen und schließlich entsteht die Verbindung zur Musik- und Formenlehre. Der Anspruch an die Improvisationsfähigkeit ist zum Teil sehr hoch. Die Schüler erarbeiten improvisierend und variierend gestaltungsoffene melodische, harmonische, rhythmische Elemente der Musiklehre und klaviertechnische Grundformen. (10)
Besonders die Kollektivität im Gruppenunterricht ermöglicht, Interaktionen zwischen Lehrer und Schüler spielerisch und kommunikativ durchzuführen. Einzelstunden werden entweder zusätzlich oder für Fortgeschrittene herangezogen, da hier das Persönliche im Vordergrund stehen kann. (11)
Bemerkenswert ist, dass die Schüler auch improvisieren, ohne visuell auf die Tasten fixiert zu sein. Das Musizieren soll nicht nur „richtig“, sondern durch eine instinktive, körperliche Beschwingtheit lebendig werden. Dirigier-, Marschier- und Taktierübungen festigen das rhythmische Empfinden, sensibilisieren das Körpergefühl und aktivieren den Schüler ganzkörperlich zum Gestalten. Zudem geben sie klangliche Rückmeldung über die kör-persprachlichen Signale. (12)
Die meisten Improvisationen im Klavierunterricht gehen von vorstrukturiertem melodischem und rhythmischem Material aus. (13)Die improvisatorischen Äußerungen bestehen vorwiegend in Rufen, Reimen, Zwiegesprächen, kindlichen Eindrücken und Erlebnissen, Stimmungen und Bewegungen, die im tonalen Rahmen meist aus Dreiklängen oder Fünfton-Material bestehen. Die Improvisations-modelle (Mosaik- und Echomelodien mit oder ohne Instrument und Ergänzungsübungen) werden abwechslungsreich variiert. Entweder wechseln Frage und Antwort beziehungsweise Lehrer und Schüler im Rollentausch, die Kinder untereinander oder die Methoden (Hören, Singen, Spielen, Klatschen). Es können auch rhythmische Varianten, oder verschiedene Arten der Ausführung, Artikulationsänderungen, Auftakte beim Echo, Verkürzungen von Phrasen, Wechsel des Tonartengeschlechts, Wechsel von längeren und kürzeren Phrasen und so weiter ergänzt werden – „alle Improvisation geschieht, ohne die Frische der Erfindung zu schematisieren [...]“. (14)
Hören und Horchen
Im Hinblick auf die konstante Gefahr mechanischen Spielens besteht die Auffassung, dass speziell im Klavierunterricht die auditive Vorstellungsfähigkeit geschult werden soll. Ein Klavierstück darf erst dann auf dem Instrument wiedergegeben werden, wenn alle in ihm enthaltenen musikalischen Gesetze vom Schüler gehörsmäßig verstanden und meist auch gesungen sind. (15)
Der Entwicklung des Gehörs wird oberste Priorität gegeben. Abgelehnt wird das rein „rechnerische“ Hören. (16) Wirklich musikalisches und verstehendes Hören erfährt die Töne in ihrer musikalischen Funktion und erlauscht sie zugleich als Ausdrucksgebiet des Seelischen. (17) Hören und Horchen durchziehen den gesamten Klavierunterricht. Die Anwendung der Tonika-Do-Methode im Klavierunterricht erlaubt in der Kombination von Singen, Zeigen, Hören und Spielen eine Fülle von Handlungen für den Gruppenunterricht. (18)
Musikalisierung von technischen Übungen
In den Reformansätzen für den Klavierunterricht wird die Parallelität von musikalischer und technischer Ent-wicklung betont. Technische Übungen werden zur Realisation musikalischer Aufgaben absolviert, oder umgekehrt, technische Übungen in musikalische Formen aufgelockert. Entsprechend der kindlichen Phantasie werden sie in den Spieltrieb integriert, zu Geschicklichkeitsproben oder zur Gehör-, Rhythmus- und Gedächtniserziehung genutzt. (19) Von der Berücksichtigung kindgemäßen Entwicklungs- und Lernverhaltens verspricht man sich, dass die technische Gewandtheit im Prinzip höher ist als im herkömmlichen Klavierunterricht.
Bewegungsanweisungen werden in den Reformansätzen sparsam verwendet, um möglichst freie, ungehemmte Bewegungen zu erzeugen. Der Schüler soll das Klavierspiel mit einer freien, gelösten Einstellung aller Glieder als mühelose, freudige und „lustvolle Tätigkeit“ empfinden.
Die Entwicklung der Spielfertigkeiten geht organisch von den bereits vorhandenen Anlagen und Vorstellungen aus. Meist wird der Weg von der Grob- zur Feinmotorik, vom Arm- zum Fingerspiel empfohlen und auch die Aufmerksamkeit des Schülers für seine Bewegungsempfindungen geweckt.
Grundkräfte des Musikalischen erleben
Die meisten Musikpädagogen des Zeitraumes gründen ihre Musikauffassung auf die Energetik. (20) Hier sollen die musikalischen Spannungsabläufe in ihren Gesetzmäßigkeiten (als ein Prozess von Spannungen und Lösungen) erkannt und im Musizieren entsprechend nachempfunden werden. „Der Spielende muss sich hier von der Musik unmittelbar dahintragen lassen, muss ihren Bewegungen ganz hingegeben sein, um sie zu erfassen.“ (21)
Resümee
Der Klavierunterricht des Kindes strebt zunächst eine allgemeine Musikalisierung aus dem spontanen Erleben der musikalischen Elemente an und ist lebendig in verschiedenste Tätigkeiten wie Spielen, Lernen, Singen, Hören und Horchen, Klatschen, Bewegen, Erfinden, Dirigieren und Entdecken, Greifen und Begreifen strukturiert. Zunehmend geht es um eine intellektuelle Bewusstmachung der musikalischen Inhalte, die ein hohes Anspruchsniveau im Unterricht vermuten lassen. Musik wird in zeitübergreifenden Prinzipien und menschlichen Urerlebnissen, die sie widerspiegeln, erspürt und bewusst gemacht. (22) Die lebendige Unterrichtsmethodik und der spielerische, körpernahe Umgang mit den Lerninhalten erweisen sich durchaus als modern. Die Solmisation mit ihrer Fülle von „Musikerfahrungsspielen“ im Gruppenunterricht erlebt heute eine Renaissance. (23) Pädagogisches Qualitätsbewusstsein zeigt sich auch gegenwärtig in einer offenen, experimentellen, kommunikativen und Studierende aktivierenden Vorgehensweise. (24)
Die Ziele der Reformansätze im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bestimmen bis heute die Vision einer innovativen Instrumentalpädagogik und lassen damit Wurzeln aktueller klavierdidaktischer Ansätze erkennen. Die Klavierpädagogik in diesem Zeitraum sollte wieder entdeckt werden.
Anmerkungen
1 Vgl. Rüdiger, Wolfgang (2000): Gedanken über den gegenwärtigen Stand unseres Musiklebens und Musiklernens. In:
Üben und Musizieren. H. 1. 30, 31.
2 Vgl. Kruse-Weber, Silke (2005): Klavierpädagogik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Musikpädagogik, Eckhard Nolte (Hg). Bd. 13. Frankfurt am Main.
3 Vgl. erstmals Halm, August (1918/19):
Klavierübung. Stuttgart.
4 Loebenstein, Frieda (1932 a): Klavierpädagogik. In: Musikpädagogische Bibliothek. H. 13. Kestenberg, Leo (Hg.).
5 Vgl. Schmidt-Maritz, Frieda (1925): Musikerziehung durch den Klavierunterricht. Berlin-Lichterfelde.
6 Vgl. Schmidt-Maritz (1925), a. a. O. S. 16;
Varró, Margit (1929): Der lebendige Klavierunterricht. Leipzig und Berlin. S. 252.
7 Vgl. Loebenstein, Frieda (1932 b):
Das Klavier im Spiel der Kleinsten.
H. 5 der Reihe: Praktische Musik im Kindergarten und Hort. Dispeker, Thea (Hg.). Dresden.
8 Schmidt-Maritz (1925), S. 194.
9 Vgl. Schmidt-Maritz (1925), a. a. O. S. 106. vgl. auch Lutz-Huszagh, Nelly (1919):
Musikpädagogik mit besonderer Berücksichtigung des Klavierunterrichtes. Leipzig. S. 30ff. Varró gibt der psychologischen Beobachtung des Schülers großen Raum. Vgl. Varró (1929), a. a. O. S. 199, 309.
10 Vgl. u. a. Loebenstein, Frieda (1927 a):
Der erste Klavierunterricht. Berlin-Lichterfelde.
11 Vgl. Loebenstein (1927 a), a. a. O. S. 6; Varró (1929), a. a. O. S. 275, 279;
12 Vgl. Feudel, Elfriede (1926): Rhythmik. München, S. 34, 48; Epping, Anna (1932): Einführung in die Improvisation am Klavier. Berlin. S. 92, 98; Zwiener, Agnes und Daniel (2003): Die Vorstellung zum Klang bewegen. In: Üben und Musizieren. Heft 1. S. 64f.
13 Vgl. freie Aufgaben in Epping (1932), a. a. O. S. 125, 127. Vgl. auch Epping, Anna (1954 a): ABC der Improvisation als neuer Weg der Musikerziehung. Berlin. S. 176„185.
14 Vgl. Epping, Anna (1931/32): Improvisieren und Improvisationsunterricht. In: Die Musikpflege. 2. Jg. H. 6. S. 261.
15 Vgl. Loebenstein (1927 a), a. a. O. S. 23.
16 Vgl. Loebenstein (1927 a), a. a. O. u. S. 16.
17 Vgl. Varró (1929), a. a. O. S. 3, 26, 65.
18 Vgl. beispielsweise die klavierdidaktischen Konzeptionen von Frieda Loebenstein.
19 Vgl. Varró (1929), a. a. O. S. 252; Loebenstein (1932 a), a. a. O. S. 70ff.
20 Vgl. Kruse-Weber (2005), a. a.O. S. 56ff.
21 Vgl. Schmidt-Maritz (1925), a. a. O. S. 37.
22 vgl. hierzu auch Wieland, Renate (2003): Forschendes Üben. In: EPTA-Dokumentation (2002/03). Düsseldorf. S. 20–38.
23 Vgl. Heygster, Malte (1993): Klavier- Gruppenunterricht. Epta-Doku. S. 110–114.
24 Vgl. Twelsiek, Monika/Rüdiger, Wolfgang (2004): Zur Methodik.
In: Üben und Musizieren. H. 2. S. 42.