Das Joseph-Joachim-Fest 2007 ist nun zur letzten großen Veranstaltung geworden, bei der ich mit Rainer Cadenbach zusammenarbeiten und zusammen sein konnte. Unerwartet ist der Musikwissenschaftler, Professor an der Berliner Universität der Künste, nach kurzer Krankheit in der Nacht vom 22. auf den 23. Mai dieses Jahres viel zu früh gestorben.
Das Abschlusskonzert des erwähnten Jubiläumsfestes wird mir in Erinnerung bleiben. Auf dem Programm stand Brahms’ Streichsextett G-Dur op. 36, doch stellte sich am Vorabend heraus, dass der 3. und 4. Satz nicht aufgeführt werden konnten. Unmittelbar vor dem Konzert sah ich Cadenbach auf dem Fahrrad kommen, gesundheitlich bedingt fuhr er sehr vorsichtig. Ich fragte mich, was jetzt passieren, wie er die ungute Botschaft verkünden und wie sie die große Zahl der Zuhörer wohl aufnehmen würden. Dann begann das Konzert, und Cadenbach strahlte in seiner Moderation jene Gelassenheit und Ruhe aus, die man von ihm seit jeher kannte und der sich jedes Publikum gern anvertraute. Unter den Eingeweihten war ich nicht der einzige, der dachte, die beiden Sätze würden doch noch erklingen. Keinerlei Umstellung des Programms, kein Hinweis auf Ausfälle! Als nach gelungenem Verlauf des größeren Teils des Konzerts das fragliche Sextett anzusagen war, schaute Cadenbach mit heiterer Miene, Zuversicht ausstrahlend, einen Augenblick lang schweigend ins Publikum, sprach dann wie beiläufig über plötzlich aufgetretene Schwierigkeiten bei musikalischen Aufführungen, an denen Joachim vor mehr als hundert Jahren beteiligt war, und erklärte dann mit historisch solide wirkender Begründung die ersten beiden Sätze des Sextetts zur „Joachim’schen Fassung“. Gelächter im Publikum, ein besonders freundlicher Applaus für die Ausführenden, als sie das Podium betraten – dank einer glänzenden Rettungsaktion des Moderators.
Cadenbachs Art, Konzerte zu moderieren, ist unvergleichlich. Er war meisterhaft in der Lage, musikalische Werke unterhaltsam, aber auf höchstem Niveau, im besten Sinne geistreich und mit stupender Bildung zu kommentieren. Er verkörperte Bildung, geradezu eine menschenfreundliche Gelehrsamkeit, ohne Bildungspathos. Im Plauderton lehrte er das Vergnügen an Musik und steigerte es durch seine die Konzertatmosphäre gestaltende, stets freie Rede – ein „irdisches Vergnügen in Gott“. Die Form des mit musikalischen Aufführungen verbundenen wissenschaftlichen Symposions ist für mich mit seiner Person aufs Engste verbunden. Immer wieder hat er sich der Mühe unterzogen, Künstler und Wissenschaftler zusammenzubringen, und die enorme organisatorische wie diplomatische Kleinarbeit solcher Projekte auf sich genommen. Die E-Mails, die man als Mitstreiter bekam, wiesen oft ein mitternächtliches Sendedatum hin.
Im Juli 1944 in der Nähe von Kassel geboren, studierte Rainer Cadenbach im gediegenen, eher traditionalistischen Milieu der Universitätsstadt Bonn; er war rheinisch geworden, ein Protestant, der eine katholische Rheinländerin heiratete. Von Altphilologie, Germanistik und Philosophie kommend, der Richtung seiner Neigungen allmählich folgend, gelangte er zur Musik als Beruf. Seine philosophische Dissertation widmet sich dem Begriff des musikalischen Kunstwerks (1977). Er habilitierte sich mit akribischen Untersuchungen zu Max Regers Skizzen und Entwürfen (1985). In Bonn leitete er das studentische Symphonieorchester; das Instrument, das er selbst spielte, ist das Cello. Cadenbach hatte das Glück, nach einer erfolgreichen Gastprofessur 1989 einen Ruf an die Hochschule der Künste in Berlin zu erhalten, denn dieser Ort entsprach seinem Bedürfnis nach Nähe zur Musikpraxis in idealer Weise. Hier, an der heutigen Universität der Künste, blieb er.
Cadenbachs wissenschaftliche Interessen, seine zahlreichen Publikationen sind beinahe ein Spiegelbild des vielseitigen Musiklebens, in das er eintauchte; sie lassen sich kaum auf einen Nenner bringen. Einige Schwerpunkte sind deutlich: Musikästhetik, Beethoven und seine Rezeption, Reger, die Geschichte des Streichquartetts, in den letzten Jahren auch die Musik polnischer Komponisten. Im Kern seiner wissenschaftlichen Arbeit blieb er von der in Bonn angeeigneten Verbindung von musikalischer Analyse, ästhetischer Reflexion und Biographik geprägt; auf Basisarbeiten wie Editionen legte er Wert. Manche andere Ansätze der Musikforschung unterstützte er, ohne sich ihnen immer wirklich anzuschließen. Seine Komponisten-Monografie „Max Reger und seine Zeit“ (1991) zeigt eine beinahe klassisch zu nennende Erzählhaltung. Überlegungen aus seinen Skizzenforschungen brachte er in das Graduiertenkolleg „Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozesses“ ein, in dem er die Musikwissenschaft vertrat. Er richtete eine Beethoven-Forschungsstelle ein, die ein umfangreiches Handbuch „Beethoven aus der Sicht seiner Zeitgenossen“ soeben fertigstellt.
Rainer Cadenbach war ein geselliger Mensch, der gesellschaftliche Pflichten ernst nahm. Mit einer sympathischen Treue widmete er sich auch kleineren Themen, die ihm durch seine Ämter auferlegt oder nahegebracht wurden. Er war, wie man heute sagt, gut vernetzt, aber er gehörte nicht zu den Machtmenschen unter den Professoren. Stets höflich und freundlich, ist sein Wesen moderat.
Ich habe ihn nie klagen gehört, obwohl auch er dazu Anlass gehabt haben mag. Sein Buch über Haydns Symphonien, das angekündigt ist und auf einem jahrelangen, von ihm betreuten und moderierten, noch unabgeschlossenen Stuttgarter Aufführungszyklus beruht, würde ich sehr gern lesen, weil ich glaube, dass ihm dieses Thema gemäß ist. Ich weiß nicht, ob es so weit gediehen ist, dass es erscheinen kann.