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Ein Leben für die Klavierpädagogik

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Zum 25. Todestag der Klavierpädagogin und Pianistin Margit Varró
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Margit Varró kommt am 22. Oktober 1881 als Margit Picker in der südungarischen Kleinstadt Barcs auf die Welt. Trotz ihres Aufwachsens in der Provinz erhält sie dank ihrer Mutter eine vielseitige Bildung und ein gutes und umfangreiches Wissen1. Sie entwickelt für ihr späteres Leben eine humorvolle Persönlichkeit2. So lange ihre Erinnerung zurückreicht, spielt sie schon Klavier. Noch bevor sie lesen lernt, kann sie Noten lesen und vierhändig spielen.

Mit zehn Jahren schicken ihre Eltern sie nach Österreich, wo sie ihren ersten Klavierunterricht bei wechselnden Lehrern erhält, den sie als pädagogisch katastrophal beschreibt.3 Sie zeichnet sich durch schnelle Auffassungsgabe, Konzentrationsfähigkeit und logisches Denken aus. Englisch und Deutsch spricht sie wie ihre Muttersprache Ungarisch und lernt später noch Französisch und Italienisch hinzu.4

1900 wird sie in Budapest in die dritte Vorbereitungsklasse für die k.u.k. ungarische Musikakademie unter dem Liszt-Schüler Árpád Szendy (1863-1922, Pianist, Komponist, Pädagoge, lernte bei Liszt und Koeßler) aufgenommen und absolviert bei ihm bis 1905 auch das Akademiestudium, unter anderem mit den Fächern Klavier, Komposition und Orchestration.5 In den Jahren 1905-1907 erhält sie bei Kálmán Chován an der Königlichen Ungarischen Musikakademie Unterricht.

1907 schließt sie als erste Preisträgerin des im gleichen Jahr neu installierten Ernö-Fodor-Stipendiums der Volkmann-Stiftung für Klavier und Klavierpädagogik mit besten Noten ab. In diesen Jahren heiratet Margit Picker den drei Jahre älteren Publizisten, freien Journalisten, Soziologen und Bibliographen Varró István, der am 17. März 1878 geboren wurde.6 Seither heißt sie Varró Margit, Varróné Margit oder auch Varró-Picker Margit.

Um 1900 gibt es auch eine Reihe ungarischer Studenten an der Liszt- Akademie Budapest, die uns sehr wohl bekannt sind. Zu diesen jungen Musikern gehören, um nur einige zu nennen, Béla Bartók, Zoltán Kodály, Ernö Dohnányi, Sándor Reschofsky und Léo Weiner. Sie stehen am Anfang ihrer internationalen Karriere als ausübende Künstler, Komponisten, Wissenschaftler und Lehrer, die dann ihrerseits auch wieder exzellente Schüler hervorbringen. Zeitweise bezeichnen sie sich als die Erben Liszts.

Nach dem Studium folgen für Margit Varró 1907-08 Lehrtätigkeit an der Fodor-Musikschule und auch private Unterrichtstätigkeit. Gleichzeitig tritt sie in den Jahren 1907-13 verstärkt in Konzerten in Ungarn, Österreich und Deutschland auf und gibt Lehrerfortbildungskurse an der Staatlichen Ungarischen Musikakademie, bis sie dann 1918-20 als erste Frau zur Dozentin an der staatlichen ungarischen Musikakademie ernannt wird, die damals von Ernö Dohnányi als Direktor und Zoltán Kodály als Vizedirektor geleitet wird. Sie ist dort zunächst verantwortlich für die Lehrproben, bevor sie dann auch die Leitung der Übungsschule übernimmt. So sind Béla Bartók, Zoltán Kodály, Ernó Dohnányi, Sándor Reschofsky, Léo Weiner und Margit Varró dann auch für eine Zeit im Lehrkörper der Franz Liszt-Akademie gemeinsam tätig.

Diese Zeit zeichnet professionelle Zusammenarbeit aus. Psychologische, musikermedizinische und pädagogische Ansätze werden diskutiert, ver-öffentlicht und im Unterricht angewandt. Sie führen zu neuen ganzheitlichen pädagogischen Ansätzen unter dem Einfluss von Sándor Kovács, gerade auch im psychologischen Bereich. Während der ausführende Kün-stler Ernö Dohnányi aus Deutschland ein neues nationales Curriculum mitbringt, entwickeln Béla Bartók als Komponist, Zoltán Kodály – der das Singen favorisiert – und Sándor Reschofsky als Komponist und Pädagoge gemeinsam und auch jeder für sich pädagogische Methoden und Lehrwerke für den Instrumentalunterricht.

Schon die Fülle der Fachliteratur, die zu diesem Zeitpunkt veröffentlicht wird, spiegelt die Aufbruchstimmung dieser Zeit. Hier nur einige dieser Werke: Riemann, Hugo: „System der musikalischen Rhythmik und Metrik“, Leipzig, 1903; Matthey, T.: „The act of Touch” London 1909; Breithaupt, Rudolf Maria: „Die natürliche Klaviertechnik“, Leipzig 1904; Caland, Elisabeth: „Die Ausnützung der Kraftquellen im Klavierspiel“, Stuttgart 1905; ...und später Loebenstein, Frieda: „Der erste Klavierunterricht“, Berlin-Lichterfelde 1927 – Werke, die zu jener Zeit im Gespräch sind, die diskutiert werden,… – kennt sie Margit Varró viel-leicht auch?

Die ersten Veröffentlichungen

Politisch fällt in diese Zeit auch die kurzzeitige Ausrufung der Räterepublik in Ungarn. Dohnányi und Kodály versuchen in dieser Zeit, nur die besten Musiker ihres Faches an die Hochschule zu berufen. Dohnányi wird nach der politischen Restitution plötzlich fälschlicherweise beurlaubt, Kodály tritt aus Protest zurück und 14 andere Professoren und Dozenten, darunter auch Bartók, Varró und Weiner streiken. Dohnányi und wenige andere erhalten ihre Stellen zurück, während wiederum andere keine Anstellung mehr erhalten7.
Neben der Lehrtätigkeit, den Konzerten und einigen Rundfunkaufnahmen beginnt Margit Varró auch zu veröffentlichen. Ihr erster Artikel „Bach J.S.“8 erscheint im Jahrbuch der Fodor Musikschule 1908. Es erscheinen in Folge hauptsächlich kürzere Artikel zu verschiedenen Themen sowohl in Pester Lloyd, einer guten deutschen Tageszeitung in Budapest, als auch Artikel in ungarischen Tageszeitungen.

Gleichzeitig entwickelt Margit Varró ihre Methode aus der praktischen Unterrichtstätigkeit heraus. Ihre systematischen pädagogischen Untersuchungen und hier besonders auch das psychologische Material dienen zu-nächst als Grundlage für ihr 1921 erschienenes Buch „Zongoratanítás és zenei nevelés“9 (Klavierunterricht und Musikerziehung). 1926 erscheint dann in zwei Folgen ein langer Artikel von Margit Varró „Grundlagen des Musikunterrichts I und II“10 in der Allgemeinen Zeitung für Musik, in dem die Autorin selbst sagt „Dieser Artikel bietet eine kurze Übersicht über einige der wichtigsten Grundsätze, die in dem 1921 in Budapest bei Rózsavölgyi in ungarischer Sprache erschienenen Buche der Verfasserin: „Klavierunterricht und musikalische Erziehung” niedergelegt sind. – Die deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung.“11

In den folgenden Jahren übersetzt sie „Zongoratanitás ...“ selbst ins Deutsche, überarbeitet es und erweitert es besonders im dritten, psychologischen Teil. So entsteht 1929 ihre wichtigste Veröffentlichung: „Der lebendige Klavierunterricht – seine Methodik und Psychologie“12, die unter anderem auch von Bartók, aber auch von anderen Zeitgenossen wie Rudolph Maria Breithaupt, Erich Doflein, Wilhelm Gebhardt,13 um nur einige zu nennen, als herausragendes Buch gewürdigt wird. Es soll ihr für die Klavierpädagogik wichtigstes, aber auch für jeden Instrumentalpädagogen nützliches Werk bleiben, in dessen Vorwort von 1928 sie selbst das Wegweisende in diesem Buch definiert als „… durch innige Verbindung des Musikalischen, Technischen, und Psychologischen die Brücke zu schlagen von den wohl erkannten Zielen des Klavierunterrichts in die pädagogische Praxis. ...“14. Margit Varró arbeitet in ihrem Buch Themen wie „Erziehung des musikalischen Sinnes“, „Methodik des Anfängerunterrichts“, „Analyse von Spielstörungen“, „Lampenfieber“, „Gruppenunterricht“, „Improvisation“, „Kinderkompositionen“ und vieles mehr systematisch auf und setzt sie gut verständlich und teil- weise mit Beispielen in Praxisbezug.

Sie plädiert grundsätzlich dafür, der Klavierlehrer möge ein – möglichst großes – pädagogisches Basiswissen individuell auf den Schüler anwenden und ihm nicht eine immer gleiche Methode überstülpen. Ihrer Zeit – und vielleicht sogar so manchem heutigen Klavierpädagogen – ist sie damit weit voraus. Auch heute noch besitzt sie mit ihren wegweisenden Ausführungen hohe Aktualität.

Von Europa in die Staaten In diese Zeit fällt auch eine rege Vortragstätigkeit in den Metropolen Europas, so zum Beispiel referiert sie bei der Internationalen Konferenz für Musikerziehung in Paris 1937 und schreibt viele Veröffentlichungen15 in unterschiedlichen Sprachen, die bis heute zugänglich sind. 1938 wandert Margit Varró nach Chicago, Illinois, USA aus, nicht zuletzt auch, um be-ruflich mehr zu erreichen16. Dort setzt sie in den folgenden zwanzig Jahren ihre intensive Vortrags- und Vorlesungstätigkeit über verschiedene musikpädagogische, aber auch biographische und musikgeschichtliche Themen fort. 1939 unterrichtet sie an der Cummington School of Arts, Massachusetts, 1940-42 an der Sherwood School of Music, Chicago, 1947-56 am Institute of Design of the Illinois Institute of Technology, Chicago, 1950-58 am Chicago Musical College of Roosevelt University und 1958-59 an der University of Chicago College.17 Um ihren Mann nachholen zu können, braucht sie im Übrigen den Nachweis einer festen Anstellung. István Varró arbeitet in den USA als Buchbinder und als Koch, während seine Frau Margit Varró neben den festen Tätigkeiten bis ins hohe Alter unterrichtet – teilweise von acht bis zwanzig Uhr. Sein gutes Cellospiel aus Ungarn kann er in den USA nicht mehr pflegen18. Ihr Sohn Stephen Varró mit Familie kommt 1945 über Lateinamerika nach Chicago und geht später nach New York. Dort besucht ihn die Mutter mit 82 Jahren für eine längere Zeit, nachdem am 13. September 1963 der Vater in Chicago stirbt19. In New York kann sie sich vor Einladungen und Telefonaten ihrer ehemaligen Schüler kaum retten20. Auch im Alter hat sie es noch immer sehr eilig und läuft viel. Noch mit 94 Jahren unterrichtet sie in der eigenen Chicagoer Wohnung die privaten Schüler und beteiligt sich aktiv am sozialen Leben. Der Plan, ihre Memoiren zu schreiben, wird dann durch einen Sturz mit Hüftbruch verhindert. Mit 95 verbringt sie ihr Lebensende im Altersheim, sitzt im Rollstuhl und spielt nur wenig Klavier. Die „leeren Tage machen mir zu schaffen“ und „ich lebe in der Gegenwart“ betont sie. Für sie ist wichtig, dass “sie mit den Schülern immer ehrlich umgegangen ist“. Sie freut sich, dass sie „so privilegiert war, so viele junge Lehrer an
das Unterrichten heranführen zu dürfen“21. Laut Altersheimauskunft steht sie mit vielen Schülern mit Briefen und Tonbändern im Austausch und sie bleibt auch für die Mitbewohner selber aktiv. Die letzten Jahre erblindet sie vollständig. Margit Varró stirbt am 15. Mai 1978 im Alter von 97 Jahren in Chicago, Illinois, USA. Noch heute wird Margit Varró von Autoren zitiert, so zum Beispiel 2002 von Elgin Roth in „Klavierspiel und Körperbewußtsein“ oder 1993 von Peter Heilbut in “Klavier spielen“, um nur zwei Veröffentlichungen von vielen aus den letzten Jahren anzuführen.

Auch Carl Adolf Martienssen erwähnt sie bereits 1930 in „Die individuelle Klaviertechnik“ und 1954 in seinem „Schöpferischen Klavierunterricht“, genauso wie Kurt Schubert 1946 in „Die Technik des Klavierspiels“ und viele andere. Unzweifelhaft folgen zahlreiche (auch bekannte) musikpädagogische Autoren unserer Zeit dem bereits von ihr gebahnten Weg. Daher ist es nur konsequent, dass „Der lebendige Klavierunterricht“, der in der Vierten Auflage von 1958 noch erhältlich ist, auch heute noch zur Grundlagenliteratur für die klaviermethodische Ausbildung an Musikhochschulen, Konservatorien und Akademien zählt – zu Recht!

1 Máthé Miklósné: „Utószó: Varró Margit eletútja” in: Veszprémi Lili: „Varró Margit, Tanulmányok, löadások „Visszaem-lékezések”, Zenemükiadó, Budapest 1980, p. 114 -123 .
2 G. Varró: „Emlékek Margitról” in: Ábrahám Mariann „Varró Margit és a XXI Század”, Zenetanárok Társasága 2000, p.153-158.
3 E. Thiel: „Interview” in: Glissando, Sherwood Music School, Chicago 1940.
4 Máthé Miklósné: „Utószó: Varró Margit elétutja” in: Veszprémi Lili: „Varró Margit, Tanulmányok, Elöadások, Visszaem-lékezések”, Zenemükiadó, Budapest 1980, p. 114 -123 .
5 E.Thiel: „Interview” in: Glissando, Sherwood Music School, Chicago 1940.
6 Ábrahám Mariann: „Eletrajzi adatok, bibliográfia” in „Két Világrész Tanára, Varró Margit“ Budapest 1991, p.583.
7 siehe Jahrbücher der Liszt Akademie von 1900 -1930.
8 Varró Margit: „Bach J.S.” in: Fodor Zeneiskola évkönyve 1908, p. 5-14.
9 Varró Margit: „Zongoratanítás és zenei nevelés”, Rozsavölgyi és Társa, Budapest 1921, 248p.
10 Varró Margit: „Grundlagen des Musikunterrichts I und II”, in: „Allgemeine Zeitung für Musik”, 53. Jhrg., No 24 p. 523ff und 25 p. 543ff, Berlin 1926.
11 a.a.O.
12 Varró Margit: „Der lebendige Klavierunterricht – seine Methodik und Psychologie”, Simrock, Berlin-Leipzig 1929, 311p.
13 Werbeblatt vom Simrock Verlag zur 2. Auflage von „Der lebendige Klavierunterricht – seine Methodik und Psychologie”, Simrock, Berlin-Leipzig 1929, 311p.
14 Varró Margit: „Der lebendige Klavierunterricht – seine Methodik und Psychologie”, Simrock, Berlin-Leipzig 1929, p. IV.
15 eine ausführliche Bibliographie ist in Helms, Schneider, Weber: „Neues Lexikon der Musikpädagogik”, Personenteil, Gustav Bosse Verlag, Kassel 2001 einzusehen.
16 Gabrielle Varró: „Emlékek Margitról” in: Ábrahám Mariann: „Varró Margit és a XXI Század”, Zenetanárok Társasága 2000, p.153-158.
17 „Autobiography“, Ms., Margit Varró, Chicago, 1976.
18 Gabrielle Varró: „Emlékek Margitról” in: Ábrahám Mariann: „Varró Margit és a XXI Század”, Zenetanárok Társasága 2000, p.153-158.
19 Ábrahám Mariann: „Eletrajzi adatok, bibliográfia” in: „Két Világrész Tanára, Varró Margit“ Budapest 1991, p.583. 20 “Ex-Pianoteacher, 95, still hears from pupils”, Chicago Sun -Times, Chicago, 16. Mai, 1977.
21 a.a.O.

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