Die Dame am Cembalo, die den Lautenisten accompagniert aber auch führt, war eines ihrer Lieblingsgemälde. Ein Wunschbild. Wichtig war ihr daran nicht nur die Gleichwertigkeit der Geschlechter beim Instrumentalspiel, die Frans van Mieris’ „Hauskonzert“ Mitte des 17. Jahrhunderts so überraschend eindeutig behauptet – sie, Ruth, interessierte vor allem das Miteinander beim musikalischen Tun. Gemeinsam zu musizieren, das war für sie wie ein gutes Gespräch. Die Möglichkeit dazu setzte sie grundsätzlich immer voraus.
Auch in diesem Sinn – kommunizierend gedacht – lesen sich die Titel der Werke: Briefe für Orchester, Metamorphosen, Begegnungen, Reflektionen, Reminiszenzen. Eine Feministin war Ruth Zechlin nie, eine Querständige schon. Geboren 1926 in Großhartmannsdorf bei Freiberg in Sachsen, war sie eine der ersten Professorinnen der ehemaligen DDR, die erste und einzige für Komposition. Im bayerischen Passau, wo sie ihre letzten sechszehn Lebensjahre verbrachte, war ihr Part auch der der ersten komponierenden Frau.
Ihre Querständigkeit kam aus dem Beharren. Das hatten sie namhafte Lehrer gelehrt – in schwieriger Zeit. Johann Nepomuk David zum Beispiel, bei dem sie ab 1943 Unterricht nahm, ermunterte sie heimlich zum Experimentieren – Karl Straube und Günther Ramin verwiesen auf Bach, der sich als ein roter Faden fortan durch Ruth Zechlins eigene Orgel-, Cembalo- und Orchestermusik zog. Bach diente eigener innerer Stärkung vor allem in Phasen kulturpolitischer Enge. Erst sehr spät – in gefühlter geistiger Freiheit und den täglichen Blick auf die Alpen genießend – schuf sie ihr eigenes geistliches Œuvre. Und noch bis ins vergangene Jahr sah man die Komponistin selbst am Instrument.
Um die Frauenmusikfestivals im wiedervereinigten Lande machte sie meist einen Bogen. Ihre Bezugsgrößen waren andere: Lutoslawski, Henze, Kurtág nannte sie Generationsgefährten – Pankraz Freiherr von Freyberg, Hellmuth Matiasek, Stefan Tilch wurden Arbeits-partner. Auch für ihr Bühnenwerk, das am Ende sieben Stücke umfasste. Bischof Franz Xaver Eder war begeistert vom Enthusiasmus, mit dem sie die Passauer Domorgel in Besitz nahm und das Publikum für sich gewann. Beinahe zeitgleich – Anfang der 90er – saß sie anderen Orts neben Heiner Müller; als dessen Vizepräsidentin stritt sie dafür, in der Ostberliner Akademie der Künste möglichst wenig Substanz zu vernichten.
Was bleibt von dieser deutschen Bio-graphie? In jedem Fall mehr als 250 Kompositionen in allen Gattungen. Wer sie künftig aufführen wird, muss sich auch auf manche Zwiespältigkeit in ihnen berufen. Eine Avantgardistin im ausschließlich materialästhetischen Sinn war Ruth Zechlin nie. Dazu hat sie vielleicht zu sehr das Bewahren geliebt und zu aufführungspraktisch gedacht. Was ihre Schüler – darunter Georg Katzer, Hans-Jürgen Wenzel, Gerd Domhardt, Ralf Hoyer und Stefan Winkler – durchaus zu schätzen verstanden. Natürlich schrieb sie auch für das Raschèr Quartett, Christina Ascher und die Gruppe Neue Musik ‚Hanns Eisler‘.Viel wichtiger aber als die fixe Einordnung war in ihrem Falle, dass sie selbst in steter Veränderung blieb und für sich immer Neues versuchte. Und dass ihr in Werk und Leben etwas gelang, wofür es keine Vorbilder gab. In Deutschland gleichermaßen Hochschullehrerin, Organistin und bekannte Komponistin zu werden, ohne sich als Mensch zu verbiegen – das war für ihre Generation der ganz große Ausnahmefall.
Unvergesslich bleibt jene Nacht im Oktober: Ruth Zechlin, an der Orgel der Erlöserkirche in Ostberlin, wie sie die Protestnacht der Künstler „Wider den Schlaf der Vernunft“ eröffnet, mit einem kraftvollen Orgelstück gleichen Titels. Das war im 89er-Herbst, in ihrer wohl politischsten Zeit.
Den Jahren der Kämpfe folgten Stunden des Feierns: der 70. Geburtstag in Passau mit Kollegen und Freunden aus West und Ost, die Uraufführungen der Opern „Die Reise“ und später „Elissa“. Nach dem 80. Geburtstag begann der Lebenskampf gegen den Krebs – am 4. August 2007 war auch Ruth Zechlin diesem Kampf unterlegen, nach einem sehr schaffensreichen letzten Lebensabschnitt.