Maria Seeliger: Das Musikschiff. Kinder und Eltern erleben Musik. Von der pränatalen Zeit bis ins vierte Lebensjahr (ConBrio Fachbuch Bd. 10), ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg 2003, 430 S., Abb., Notenbeispiele, CD, € 39,00, ISBN 3-932581-59-8.
Seit der PISA-Studie und ihren deprimierenden Ergebnissen sind Forderungen nach einer frühen Förderung unserer Kinder wieder in das öffentliche Interesse gerückt. Müssen wir nicht viel früher mit dem Lernen anfangen, nämlich schon in den ersten Jahren, wenn die Kinder am lernfähigsten und aufnahmebereitesten sind, wie uns die Hirnforscher sagen? Müssen wir nicht viel mehr investieren in die Ausbildung von Erziehern und Erzieherinnen wie in die Bereitstellung von Früherziehungsangeboten? Ja, das müssen wir zweifellos und für die musikalische Früherziehung hat Maria Seeliger ihr Musikschiff klar gemacht, das Eltern und Kinder auf eine Erkundungsfahrt ins Reich der Musik mitnehmen möchte. Ihr Buch ist dem Geheimnis „Kind“ gewidmet, das sie dann aber doch in seiner Entwicklung zu entschlüsseln sucht.
In den ersten drei Teilen gibt das Buch eine allgemeine Orientierung für die Kindergruppenarbeit. Das erste Kapitel „Bedeutung und Organisation einer Eltern-Kind-Gruppe“ führt in Organisation, Aufbau und Zielorientierung der Eltern-Kind-Arbeit ein. Im zweiten Kapitel „Theoretischer Hintergrund und praktische Anwendung“ werden das psychoanalytische Entwicklungsmodell Daniel Sterns und die Lerntheorie Edwin Gordons vorgestellt, woran sich im dritten Kapitel „Einblick in das kindliche Leben“ eine Beschreibung der kindlichen Entwicklung von der pränatalen Phase bis zum Kindergartenalter anschließt. Dabei gelingt es Seeliger, Eltern und Erzieher einfühlsam mit der kindlichen Entwicklung vertraut zu machen, ohne sie allzu sehr mit Details empirischer Forschung und wissenschaftlicher Theoriebildung zu überfordern. Unter Zuhilfenahme ausgewählter Erklärungsmodelle bietet sie den Lesern Einblicke in die unterschiedlichen Vorgänge im heranwachsenden Kind.
Am interessantesten und anregendsten für Erzieher/-innen erscheint mir der abschließende vierte Teil, in dem die Autorin je sieben konkrete Stundenmodelle für die verschiedenen Alterstufen (von Geburt bis 18 Monate, 18 bis 36 Monate, 36 bis 48 Monate) mitteilt, die aus langjähriger pädagogischer Praxis erwachsen sind, was man beim Lesen jeder Zeile spürt, und die denen viele wichtige Anregungen bieten, die in der Eltern-Kind-Gruppenarbeit tätig sind oder dies werden wollen. Mit der notwendigen Genauigkeit bei aller Offenheit sind die einzelnen Vorgänge im Stundenablauf beschrieben, werden didaktische Impulse gegeben, Handlungsanleitungen vermittelt und Erfahrungsmöglichkeiten angedeutet. Die große Zahl von Liedern und Übungs-Patterns zusammen mit anschaulichen Bildern („Szenenfotos“) macht diesen Teil zu einem wertvollen Leitfaden für die Arbeit mit Eltern und Kindern.
Dabei steuert Seeligers Musikschiff einen lebensorientierten, ganzheitlichen Kurs, bei dem es um die Erfahrung und das Erleben von Musik mit allen Sinnen in vielen sozialen Situationen mit unterschiedlichen kommunikativen Bedingungen geht. Im Unterrichtsablauf wird „die Atmosphäre und die Grundstimmung, in der alles geschieht, entscheidend“ (S. 245). Ihr Ziel ist es, „Bedingungen des Wachsens“ zu schaffen und nicht zu „ziehen“ (wozu das Wort „er-ziehen“ verleiten könnte) (S. 246). Im Grundsatz verfolgt sie eine organische Balance von Führen und Folgen, geleitetem und freiem Tun, von bewegten und ruhigen Phasen (S. 247). Ihr pädagogisches Konzept ist dabei ebenso der rhythmischen Erziehung wie einem psychoanalytischen (D. Stern) und musiktherapeutischen (H. H. Decker-Voigt) Ansatz verpflichtet. Die lerntheoretischen Grundlagen Edwin Gordons werden dabei zwar ausführlich beschrieben (Kap. 2), gehen aber nicht explizit in die Darstellung der kindlichen Entwicklung ein (Kap. 3), obwohl gerade die Verbindung von Lerntheorie und Entwicklungsprozess der elementaren Musikpädagogik innovative Impulse geben könnte. Implizit zeigt sich in der methodischen Anlage der einzelnen Unterrichtsmodelle jedoch, wie die lerntheoretischen Vorgaben verinnerlicht worden sind.
Mit ihrem ganzheitlichen Konzept geht es Maria Seeliger nicht allein um musikalisches Lernen, sondern um die Integration von Musik in den gesamten Entwicklungsprozess des Kleinkindes. Daher sind alle Tätigkeiten und Inhalte in den Gruppenstunden besonders auf physisches und psychisches Wohlbefinden, auf kommunikative Kontakte, personale Stärkung, positives Selbstempfinden und emotionales Erleben gerichtet. Dies wird dann in Spiel und Sprache, Tanz und Bewegung, durch Singen und Hören, mit Klängen und Geräuschen umgesetzt. Begleitmaterial dazu enthält die beigefügte CD „Musik zum Tanzen und Träumen“ mit 17 kurzen Beispielen unterschiedlichen Charakters aus Barock, Klassik, Romantik und überwiegend aus dem Bereich der Folklore. Zusammen mit umfangreichen Literaturhinweisen auf Materialsammlungen zum Singen, Spielen und Tanzen bietet das Buch eine solide Arbeitsgrundlage und macht es zu einem wichtigen Sach- und Fachbuch für Musikpädagogen in der Früherziehung, das über praktische Anregungen hinaus auch entwicklungspsychologische Hintergründe aufzeigt und Verhaltensformen beschreibt, die dem besseren Verstehen der kindlichen Entwicklung dienen und die Früherziehungsarbeit vertiefen helfen.