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Gegen die affirmative Funktion von Musik

Untertitel
Zwei neue Sammelbände zum kulturellen Wandel nach 1968 · Von Albrecht Dümling
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Nun sind auch diese bewegten Jahre schon wieder Geschichte geworden. Man reibt sich die Augen: Sind seitdem wirklich vierzig Jahre vergangen? Beteiligte wie Unbeteiligte schauen zurück, erinnern sich und bewerten. Das kann sehr schrille Züge annehmen, wenn etwa – wie in dem Buch „Unser Kampf“ von Götz Aly – die Rebellen von 1968 mit den Hitler-Anhängern von 1933 verglichen werden. Angemessener und weniger einseitig angelegt war dagegen die große Retrospektive „Kunst + Revolte“ der Berliner Akademie der Künste, die sich in diesem Frühjahr in Ausstellungen, Diskussionen, Lesungen, Filmvorführungen, Tanzperformances und Konzerten dem künstlerischen Erbe von 1968 widmete.

Mehr abseits vom Weltgeschehen, in der idyllisch gelegenen Katholischen Akademie Schwerte, hatte man schon im Oktober 2005 über „1968: Musik und gesellschaftlicher Protest“ diskutiert und referiert. Im Januar 2006 folgte am gleichen Ort als Fortsetzung die wissenschaftliche Tagung „1968: Musikkulturen zwischen Rebellion und Utopie“. Die Ergebnisse dieser beiden Symposien wurden inzwischen in zwei anregenden Büchern veröffentlicht.

Die Jahreszahl 1968 scheint Eindeutigkeit zu signalisieren, verweist aber auf ein ganzes Bündel und Spektrum von Themen. Man griffe zu kurz, wollte man „1968“ auf den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) oder gar auf die RAF einengen. Es handelte sich zwar nicht um eine ganze Generation, aber doch um eine Vielfalt häufig in sich zerstrittener Gruppen. Den an der Sowjetunion und der DDR sich orientierenden Gruppen standen, so Frieder Reininghaus, verschiedene „K-Gruppen“ gegenüber, deren Vorbilder die Volksrepublik China oder Albanien waren. Hatte für sie der Pariser Mai den Startimpuls gebildet oder, wie Reininghaus meint, der Prager Frühling? Aus der Sicht von Maoisten war sicher der Aufbruch im „real existierenden Sozialismus“ von besonderem Interesse. Man dürfte aber wohl behaupten, dass für die Mehrheit der Protestler die Kritik an Verkrustungen innerhalb des westlichen Kapitalismus, am Vietnamkrieg sowie an der damals diagnostizierten „Bildungskatastrophe“ (Georg Picht) den Ausgangspunkt bildete.

Der Protest entstand nicht im luftleeren Raum, sondern hat Vorläufer wie die niederländischen Provos, die ab 1965 das „Establishment“ durch spielerische Aktionen provozierten. Diesem Umfeld entstammte die sogenannte „Notenkrakersactie“, die „Notenknackeraktion“, mit der am 17. November 1969 eine Gruppe junger niederländischer Komponisten und Musiker ein Konzert des Amsterdamer Concertgebouw Orkest störten. Als Bernard Haitink an jenem Abend den Taktstock hob, um den Einsatz zu geben, erklangen verschiedene Lärminstrumente und regneten Flugblätter auf das Publikum herab. Die Störer begannen, über Megaphon mit den Musikern und dem Publikum zu diskutieren, wobei sie die autoritären Strukturen im Orchester und den geringen Anteil zeitgenössischer Musik anprangerten. Federführend bei dieser Aktion waren die Komponisten Louis Andriessen, Reinbert de Leeuw, Misha Mengelberg, Peter Schat und (mit Einschränkungen) Jan van Vlijmen, in Holland bekannt als „Die Fünf“. Als Schüler von Kees van Baaren verknüpften sie einen experimentellen Ansatz in der Musik mit linkspolitischen Themen. Schon Ende Mai 1968 hatten sie im Amsterdamer Carré-Theater mit „politisch-demonstrativen Experimentalkonzerten“ begonnen und unmittelbar vor ihrer spektakulären „Notenknackeraktion“ an der Oper „Reconstructie“ zusammengearbeitet, die dann beim Holland-Festival 1969 mit großer Wirkung herauskam.

Aus Misstrauen gegen die bürgerliche Demokratie und ihre „verwaltete Welt“ kam es zu einer außerparlamentarischen Opposition (APO). Die Kritik am bürgerlichen Musikbetrieb stand nicht im Zentrum des Protests, war aber doch ein Teil davon. Abonnementkonzert und Oper galten als Inbegriff des Establishments und deshalb als besonders kritikwürdig. Tatsächlich waren nicht nur beim Concertgebouw Orkest Ablauf und Programmgestaltung ritualhaft erstarrt. Kritisiert wurde ebenso der Kult um Virtuosen und Dirigenten, wobei Herbert von Karajan ein beliebtes Angriffsziel darstellte. „Am gegenüberliegenden Pol wurde ­Pierre Boulez lokalisiert“, so Martin Elste. „Als Dirigent schien er mit seinem Schlachtruf vom In-die-Luft-Sprengen der Opernhäuser alle Traditionen rückhaltlos zu hinterfragen.“

Für wen komponieren
Sie eigentlich?

Das etablierte Musikleben wurde nicht mehr als selbstverständlich akzeptiert. Vielmehr fragte man nun mit Heinz-Klaus Metzger grundsätzlich: „Musik wozu?“ Und Hansjörg Pauli richtete an Komponisten die Frage: „Für wen komponieren Sie eigentlich?“ Zur Skepsis gegen die vorherrschende Praxis hatte neben Theodor W. Adorno nicht zuletzt Herbert Marcuse beigetragen. In seinen Büchern „Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“ (1964) und „Versuch über Befreiung“ (1969) plädierte er für eine authentische Kunst, die sich dem „affirmativen Charakter der Kultur“ widersetze.

Der Musikpublizist Ulrich Dibelius schrieb 1969 in dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Musik auf der Flucht vor sich selbst“ über das gegenwärtige Komponieren: „Es will nicht als elitäre Kunstübung, sondern als ein dazugehöriger Teil des gelebten Alltags verstanden sein.“ Der damals revoluzzerhaft auftretende Pierre Boulez plante in diesem Jahr, wie Clytus Gottwald berichtet, ein Stück über die Mauerinschriften der Pariser Revolte von 1968; dazu kam es nicht, weil Luciano Berio ihm zuvorgekommen sei. Anders als Boulez und Berio befürchteten allerdings die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, so Frank Hentschel, nichts so sehr wie eine Politisierung. Nachdem auf einer „Vollversammlung“ am 1. September 1970 Teilnehmer von der Kursleitung mehr Internationalisierung und Demokratisierung gefordert hatten, wurden die Wortführer Reinhard Oehlschlägel, Rudolf Frisius, Ernstalbrecht Stiebler und Max E. Keller bei den Kursen von 1972 von der Teilnahme ausgeschlossen. Ebenfalls in diesem Sommer warnte der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus in einem Darmstädter Vortrag eindringlich vor einer Annäherung von Musik und Politik, da dies der musikalischen Qualität nur schade. Schon zuvor hatte er in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ „engagierte Musik“ als ein Schlagwort bezeichnet, „mit dem sich Gedankenlosigkeit drapiert“.

Bei den Darmstädter Ferienkursen gab es tatsächlich Züge von Erstarrung, die dann als Folge des Protests aufgebrochen wurden: Der nun erstmals installierte Programmbeirat sorgte dafür, dass auch Komponisten wie Mauricio Kagel, Iannis Xenakis, Christian Wolff und Frederic Rzewski ihre Werke vorstellen konnten. Kagel kam, enttäuschte aber manche seiner linken Fürsprecher als sie bemerkten, dass sein experimentelles Schaffen „weniger revolutionär orientiert war, als es zunächst den Anschein hatte“ (Björn Heile). Heile erklärte Kagels Zurückhaltung aus seiner anarchistischen Herkunft und seinen argentinischen Erfahrungen, die ihn immun machten gegenüber den Verlockungen einer eindeutig politisch engagierten Kunst. Hierin glich er seinem Freund Györgi Ligeti, der 1956 aus dem stalinistischen Ungarn geflohen war.

Dagegen waren Luigi Nono und Hans Werner Henze geprägt durch den Widerstand gegen Faschismus und Nationalsozialismus und begrüßten deshalb viel grundsätzlicher den Aufbruch der kritischen Studenten. Vehement unterstützte Nono den Protest gegen den Vietnamkrieg und widmete diesem Thema seine Komposition „A floresta è jovem e cheja de vida“ für Sopran, drei Schauspieler, Klarinette, Kupferplatten und Tonband. Obwohl Mitglieder des Living Theatre bei der Uraufführung aus einer Schrift des US-Verteidigungsministeriums vorlasen, entstand kein schlichter Agitprop. Das Werk gehört vielmehr durch verschiedene Interaktionen zwischen Live- und Tonbandstimmen, Stimmen und Geräuschen, natürlichen und artifiziellen Klängen, Akustischem und Visuellem der musikalischen Avantgarde an.

Gerade das Musiktheater eignete sich zur Vermittlung brisanter Inhalte. Am Beispiel von „Fidelio“-Neuinszenierungen in Kassel, Bremen und Salzburg – alle aus dem Jahre 1968 – stellte Glenn Stanley dar, wie sehr die politischen Ereignisse die Wahrnehmung dieses Werks veränderten. In Kassel konzentrierte man sich ganz auf „die Grundthemen Gewalt, Unterdrückung, politischer Mord“, wozu man Texte solcher Autoren einblendete, die Opfer politischer Gewalt gewesen waren. Wenngleich solche Eingriffe in Beet­hovens Werk damals heftige Proteste hervorriefen, regten sie doch eine Inszenierungstradition an, die bis heute fortwirkt. Hans Werner Henze hatte schon vorher, so in seiner 1966 in Salzburg uraufgeführten Oper „DieBassariden“, Themen der psychischen und sexuellen Befreiung aufgegriffen, die dann ebenfalls die Revolte von 1968 prägen sollten (dazu Antje Tumat). Er war deshalb vorbereitet auf die Begegnung mit der Studentenbewegung, die Arnold Jacobshagen am Beispiel des multimedialen Bühnenwerks „Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer“ schilderte.

Luigi Nono hatte mit „Intolleranza 1960“, einer Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg, ein dezidiert politisches Bühnenwerk geschaffen, das 1962 bei seiner Uraufführung in Venedig den Protest von Neofaschisten hervorrief. Mit „La fabbrica illuminata“ für Sopran und Tonband entstand 1964 eine Komposition, die – so behauptet Caroline Lüdersen – zum Paradigma politischen Komponierens in den 1960er-Jahren wurde. In der Frage, ob Inhalt oder Form wesentlicher seien, schieden sich damals die Geister. Wie Simone Heilgendorff am Beispiel der 1959 entworfenen Vokalkomposition „glossolalie“ von Dieter Schnebel demonstrierte, suchte der Komponist darin eine Verbindung beider Elemente, indem er alltägliche Interaktionsformen zur Diskussion stellte. Hier bedürfe es dann nicht mehr der Worte, sondern eines „szenischen Verstehens“. Den pädagogisch-theologischen Impuls des Komponisten leitete Clytus Gottwald aus seiner Auseinandersetzung mit der modernen Theologie ab. Dennoch könnte man Schnebels Kompositionen dieser Jahre den vielfältigen Subversionsstrategien zuordnen, die damals entwickelt wurden und die auch die Lebensformen veränderten.

Die Fragen nach
Funktion und Wirkung

Kunst sollte zu gesellschaftlichen Veränderungen beitragen, das war die offen erklärte Hoffnung vieler. Man fragte deshalb nach ihren Aufgaben und war unzufrieden, wenn dekorative, affirmative Funktionen dominierten. Marxistische Gedankenmodelle wanderten, so Martin Elste, auch in die Musikkritik ein und führten teilweise zu Stilblüten. Bei denen, die sich an Mao und seiner Kulturrevolution orientierten, aber auch bei jenen, die andere Modelle des Sozialismus als Gegenbilder zum vorherrschenden Kapitalismus anstrebten, stand die „Revolution“ hoch im Kurs. Es war ein verlockender Begriff, dessen Konsequenzen nicht immer bedacht wurden. Marxistisch orientierte Studenten führte er dazu, ein Bündnis mit den Arbeitern zu suchen. Hatte es nicht in der Weimarer Republik eine mächtige Arbeiterbewegung gegeben, die von Hitler zerschlagen worden war? Statt sich etwa nach den Resultaten von Arbeiterkunst in der DDR zu erkundigen, studierte man lieber die kulturpolitischen Debatten der zwanziger Jahre. Auch die Rote Blaskapelle von Freiburg erstrebte illusionär, so Peter Schleuning selbstkritisch, eine Rekonstruktion der Arbeiterbewegung. Nach dem Vorbild des „Roten Sprachrohrs“ Hanns Eislers entstanden Agitproptruppen, die direkt in die Politik eingreifen wollten. Elf dieser Truppen nahmen, wie Andreas Kühn berichtet, im März 1978 an einem Arbeitertheater-Festival der KPD/ML in der Dortmunder Westfalenhalle teil und glaubten, durch Gesänge die Klassenkämpfe der Weimarer Republik wiederbeleben zu können.

Eine solche „Arbeiterkunst“ erreichte nur eine Minderheit. Viel mehr Menschen hörten dagegen Pop- und Rockmusik, die man bis dahin nur als Unterhaltung wahrgenommen hatte. Da diese Musik zweifellos ihr Publikum hatte, gewann sie nun unter soziologischem Aspekt das ernsthafte Interesse der Studenten. In den avancierten Formen des Rock sah man Protestpotenziale und Gegenbilder zu dem als erstarrt empfundenen „elitären“ Konzertbetrieb. Beispielhaft für die nun einsetzende Neubewertung waren die Essener Songtage vom September 1968, die ihr Initiator Rolf Ulrich Kaiser als deutsche Antwort auf das Monterey Pop Festival des Vorjahres konzipierte. Internationale Gruppen wie Mothers of Invention und Pink Floyd trafen hier auf die deutschen Gruppen Amon Düül, Can und Tangerine Dream, auf Jazzmusiker wie Gunter Hampel und Peter Brötzmann und Liedermacher wie Franz Joseph Degenhardt, Hanns Dieter Hüsch und Dieter Süverkrüp.

Die hier unter dem Schlagwort „Underground“ als Alternativkultur „von unten“ präsentierte Popkultur rückte jetzt in die Nähe der musikalischen Avantgarde sowie der Pop Art. Hatten sich zu den Blütezeiten des deutschen Schlagers noch Abgründe aufgetan zwischen E- und U-Musik, so gab es nun Annäherungsversuche. Beispielhaft waren Frank Zappas Collagen auf „Freak out“, der ersten Platte der Mothers of Invention, die 1969 das Bremer Tanztheater von Johann Kresnik und Dieter Behne zu ihrer Produktion „Susi Cremecheese“ inspirierten (Steffen A. Schmidt).

Nicht wenige beschäftigte damals die Frage, warum man in Deutschland so wenig sang und warum es hier keinen Yves Montand oder Georges Brassens, keinen Pete Seeger und keine Joan Baez gab. Der Orientierung an solchen internationalen Vorbildern dienten die Treffen auf Burg Waldeck im Hunsrück, wo unter dem Motto „Chanson Folklore International – Junge Europäer singen“ auch deutsche Liedermacher wie Walter Moßmann, Degenhardt, Süverkrüp, Reinhard Mey und Hannes Wader auftraten. Lieder wie Degenhardts „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ schlugen realistische Töne an und hoben sich damit ab von der intellektuellen Erbärmlichkeit des Schlagers. In den inzwischen auch in einer CD-Edition dokumentierten Waldeck-Treffen lagen, so Holger Böning, die Anfänge des musikalischen Protests, dem sich Rockgruppen wie Floh de Cologne, Lokomotive Kreuzberg, Hotzenplotz und die West-Berliner Kultband „Ton Steine Scherben“ um Rio Reiser anschlossen. Angeregt durch internationale Vorbilder, auch durch die Volksliedsammlung von Wolfgang Steinitz, kam es zu neuen Liedformen, auch in der Singebewegung der DDR.

Avantgarde als
pluralistisches Konzept

Gewiss taten Teile der Studentenbewegung die Beschäftigung mit musikalischen Fragen als unnütz ab. Bestätigt dies aber warnende Stimmen wie die von Carl Dahlhaus, der eine Banalisierung als notwendige Konsequenz der Politisierung vorausgesagt hatte? Die hier vorliegenden Referate widersprechen dem. Gianmario Borio hob gerade das avantgardistische Moment der von „1968“ beeinflussten Musik hervor. Allerdings sei die Avantgarde zersplittert und nicht mehr auf das Merkmal der Abstraktion konzentriert. Demgegenüber schlug Borio vor, die Distanzierung von der dargestellten Wirklichkeit und die Modifikation der gewöhnlichen Wahrnehmung wie die Vergrößerung eines Details als avantgardistisch im Sinne von Dadaismus und Surrealismus zu sehen. Unterstützt durch die Schriften von ­Adorno, Marcuse, McLuhan, Abraham Moles, Max Bense, Umberto Eco und Guy Debord sei 1968 die zentrale Bedeutung der Kommunikation entdeckt worden, weshalb in der Musik dieser Zeit das Performative in den Vordergrund trat.

In Borios Deutungsmodell, das Ausführungen des Linguisten Joachim Scharloth stützten, bündeln sich viele Beobachtungen zu der in diesen Jahren entstandenen Musik: die Bemühungen Hans Werner Henzes um eine musikalische Semiotik, die vielfach angestrebte Verbindung von Musik mit anderen Künsten, die Tendenzen zur offenen Form und zur Improvisation, zu Stilpluralismus, Umfunktionierung, Montage und Collage. Unter dem kommunikativen Aspekt veränderte sich das Ballett zum Tanztheater und strebte sogar die evangelische Kirchenmusik nach Provokation und Verfremdung (Daniela Philippi) sowie nach „religiösem Aufruhr“ (Clytus Gottwald). Durch verschiedene Arten der symbolischen Funktionalisierung, die Rainer Dollase auch für den Umgang mit Unterhaltungsmusik feststellte, entwickelte sich so auf vielen Ebenen eine Gegenkultur mit einer „Ästhetik des Widerstands“ (dieses Buch von Peter Weiss blieb merkwürdigerweise unerwähnt).

Obwohl die revolutionären Hoffnungen scheiterten, führte der Protest gegen die bürgerliche Musikkultur tatsächlich oft zu einer Demokratisierung, zu mehr Mitbestimmung, wie die Gründung zahlreicher Ensembles beweist. In ihnen wurzeln die breite Wiederentdeckung der Alten Musik und die Entwicklung der historischen Aufführungs­praxis (Kailan Rubinoff zeigte dies am Beispiel von Frans Brüggen), aber auch Phänomene wie die Junge Deutsche Philharmonie und das Ensemble Modern.

Die beiden Tagungen in Schwerte untersuchten auch gleichzeitige Ereignisse in den Niederlanden, in Italien, in der DDR, im Ostblock sowie in Griechenland. Dennoch blieben viele Fragen offen, so der Einfluss von „1968“ auf die Musikpädagogik, auf die Wechselwirkung von E- und U-Musik sowie die zwischen den verschiedenen Kunstsparten. Trotz dieser Bücher und trotz des von Hanns-Werner Heister herausgegebenen Bandes „1945–1975“ zum „Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert“ bleiben also der Musikwissenschaft und ihren Nachbardisziplinen noch viele Aufgaben.

Im Rückblick darf man feststellen, dass „1968“ zu keiner Verarmung des Musiklebens führte, sondern zu einer großen Bereicherung. Anstelle der von manchen befürchteten Trennung von „Revolution der Musik“ und „Musik der Revolution“ gab es vielfältige Verschmelzungen und Aneignungen. Staunend erfährt man aus den beiden Bänden, wie vielfältig die Auswirkungen waren. So gehörte „1968“ zu den Voraussetzungen für die Entfaltung der postmodernen Richtung in der Neuen Musik, nicht zuletzt der Neuen Einfachheit. Die kritischen Fragen nach der Funktion von Musik führten vor allem in den Niederlanden zu einer stärkeren öffentlichen Förderung der Musikkultur und Musikerziehung.

Trotz dieser beeindruckenden Bilanz und obwohl Hannah Ahrend schon im Juni 1968 in einem Brief an Karl Jaspers die damaligen Ereignisse mit 1848 verglich, kann von einer Kulturrevolution nicht die Rede sein. Denn insgesamt partizipierte doch nur eine Minderheit der Bevölkerung am „Mythos 1968“ und seinen Folgen. Die Berliner Akademie der Künste betitelte ihren langen Musik­abend zum Schluss der Retrospektive „Kunst + Revolte“ deshalb bewusst doppeldeutig: „Einspruch. Musikalische (R)Evolutionen um ‘68“.

  • Beate Kutschke (Hg.), Musikkulturen in der Revolte. Studien zu Rock, Avantgarde und Klassik im Umfeld von ‚1968’. Franz Steiner, Stuttgart 2008, 249 S., ISBN 978-3-515-09085-8
  • Arnold Jacobshagen, Markus Leniger (Hg.), Rebellische Musik. Gesellschaftlicher Protest und kultureller Wandel um 1968. Dohr, Köln 2007, 320 S., ISBN 978-3-936655-48-3

 

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