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Genußliebe und Unkenntnis der Welt

Untertitel
Bekannte und neue Facetten des Schubertbildes im Jubliäumsjahr
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Zehn deutschsprachige Verlage bedienen sich im Umfeld von Schuberts Jubiläum exponiert der gleichen Illustration. Wilhelm August Rieders Aquarell porträtiert bis zum Knie und macht den Komponisten dingfest. Bis ins 200. Geburtsjahr hinein bleiben Haltung und Impetus signifikant: warm in bräunlichem Ton, Schubert so also auf dem Biedermeierstuhl, in Rock und Weste, zugeknöpft und doch ohne Zwang, selbstgewiß, den Blick durch die Brille ins Weite gespannt, in der rundlichen Hand hinter der Lehne broschierte Literatur.Friedrich Dieckmann, Autor und Publizist aus Berlin, beschreibt es im zweiten Hauptstück seiner „Annäherung“ genauer: wer das Bild stach, was es beim Versteigern erbrachte, daß Schubertfreund Rieder das Original nie verlieh. Laut Recherche entstand die Zeichnung „spontan, aber nicht zufällig“ an einem Regentag im Mai 1825, mitten in einer kulturphilosophisch bedeutsamen Krise im innersten Freundeskreis. Hier ist zunächst von Belang, daß das Aquarell Zustimmung fand: bei Beethovens Biograph Anton Schindler, bei Schuberts Freund Joseph von Spaun, bei dem Maler Moritz von Schwind, schließlich bei Schubert selbst, der die Arbeit signiert hat und somit auch sanktioniert. Der Augenblick, den Rieder, so Dieckmann, „spontan, jedoch kaum zufällig“ festhielt, birgt jedoch nur eines von mehreren, gewiß nicht sehr vielen Bildnissen, die visuell illustrieren, was in Sachen Franz Schubert bis heute zu denken und zu empfinden ist. Daß es andersartige Darstellungen seien als jene mittige, Extreme meidende, darauf verweisen manche. Das „Schubert-Lexikon“ der Akademischen Druck- und Verlagsanstalt Graz beispielsweise, herausgegeben von Margret Jestremski und Ernst Hilmar, zählt unter seinen mehr als 800 Stichwörtern jene zu den aufregenden, die sich mit der Vielheit der bildnerischen Schubert-Darstellungen beschäftigen: Von „Brille“ und „Schädel“, über „Brunnen“ und „Büsten“ bis zu „Karikaturen“ und „Kitsch“ reicht die Palette jener vielen Objekte, die Schubert-Bilder überliefern und prägen. Hinsichtlich Schuberts wirklichem „Aussehen“ allerdings divergieren bereits die Freunde: Eduard von Bauernfeld, der Lustspieldichter, nennt ihn doppeldeutig „dicksten Freund“, Wilhelm von Chézy einen „Talgklumpen“, Leopold Sonnleithner verweist auf „etwas ‚Mohrenartiges‘ an ihm“. Schuberts Alltagserscheinung, bei Rieder geglättet, eignete sich offenbar zur verschiedenerlei Interpretation. Philipp Reclams „Anthologie“, herausgegeben von Georg Braungart und Walther Dürr, fragt im Vorwort mit Recht, wer Franz Schubert war, und versammelt zur Klärung 34 Texte fast ausschließlich männlicher „Musiker, Dichter und Liebhaber“, die nicht alle unbedingt retuschieren. Johann Mayrhofer zum Beispiel, der potentielle Geliebte, kritisiert in einem Archivbericht Schuberts geschäftliche Unfähigkeit, die für ihn aus „Genußliebe ... und Unkenntnis der Welt“ resultierte. Anselm Hüttenbrenner, von Franz Liszt beauftragt zu Erinnerungen für eine später nicht realisierte Biographie, beklagt Schuberts Unlust zur Toilette. Andere überliefern die Weinseligkeit, die Leibesfülle, das kläglich Gutmütige sowie die notorische Unzuverlässigkeit. Nicht zuletzt ob bildnerischer Unvereinbarkeit von Person und kompositorischem Rang rät Theodor Fechner 1866 in Lützows „Zeitschrift für Bildende Kunst“, sich beim geplanten Schubert-Denkmal im Wiener Stadtpark auf eine Kleinbüste zu beschränken, die die Musikwelt nicht allzu heftig brüskiert. Der ‚Schubert‘ in Rudolf Hans Bartschs naturalistischem Schwammerl-Roman von 1912, gleichfalls zitiert in Reclams „Anthologie“, suggeriert eine Gestalt, die bereits mit Alltäglichem kollidiert. Physisches und psychisches Defizit, der zu kurz und ungelenk geratene Körper, Unsicherheit und eine mangelnde Disziplin mit sich selbst zeichnen das Bild eines wenig Geformten, der in den ‚männlichen‘ Dingen der Welt (Frauen, Karriere, Geschäft) schon im Freundeskreis wenig mithalten kann. Peter Härtlings Roman, der mitten in Moritz von Schwinds posthumer Zeichnung „Ein Schubert-Abend bei Spaun“ beginnt, drängt seinen Helden, den sich der Autor streng nach der „Zwei-Welten-Theorie“ erstellt, gezielt ins Tragische ab. Das Unbehaustsein, die Anverwandlung gar der ‚Wanderer‘-Figur, wird dabei zum zentralen Motiv. Wohl stirbt dieser Schubert an der Syphilis, doch krank, marode ist das ganze Milieu. Alltägliches ist bei Härtling reduziert: Gespräche am Mittagstisch kolorieren, stark dominieren Obliegenheiten der Musik. In dieser findet der Verkannte Freiraum, ein Stück psychischer Harmonie. Kontrovers dazu ein erzählerischer Erstling aus der Kolportageliteratur, Michael Stegemanns fiktives Schubert-Tagebuch „Ich bin zuende mit allen Träumen“. Die nicht ganz neue ästhetische Form ermöglicht zum einen gestalterische Willkür, zum anderen den (allerdings nicht erfüllten) Selbstanspruch der bislang fehlenden Sozialbiographie. Zu Recht polemisiert der fabulierende Journalist gegen die Wiederholung der überkommenen Bilder vom ‚Verkannten Genie‘, vom ‚Lieder-fürsten‘, vom ‚Säufer und Syphilitiker‘; sein neuer Schubert ist aus Wiener Zeitungsarchiven und konservativer Literatur (Carl Nödl, Otto Erich Deutsch) geschöpft. Wie er im Lokaldialekt monologisch sinniert, das allerdings mutet absonderlich an. Ähnlich wie auf dem Schutzumschlag Horst Janssens Radierung von 1983, die einen Stacheligen, diabolisch-Irdischen zeigt. Stegemanns Schubert provoziert. Seine Derbheit birgt Ironie, auch Rebellion, im Dialog beansprucht er das letzte Wort. Keineswegs sitzt er im Elfenbeinturm; Politisches, ja Doppelbödiges aller Art registriert er mit Bauch und Verstand. Philologisch gesehen, ist manches daran nicht ganz wahr und manches nicht ganz falsch. Die „Unbelangbarkeit der Literatur“, so Peter Gülke 1997, spricht auch diesen Schreiber von Verantwortung frei. Biographische Komponenten Gülke selbst, der Musikforscher und langjährige Wuppertaler, zuvor Weimarer GMD, konzentriert die biographischen Aspekte in seiner Schaffensdarstellung „Franz Schubert und seine Zeit“ auf zwei kleine Kapitel mit Sprengkraft. Das erste zielt auf Modalitäten in der „zugewanderten“ Familie. Beflissenheit, Untertänigkeit, der Drang nach Aufstieg und Reputation bestimmen den internen Tenor. Die einer schlesischen Familie entstammende Mutter wird 14 Mal schwanger, auch die Lebensleistung des Vaters ist enorm. Der in Mähren geborene Schulmeister arbeitet seine Familie im intoleranten Wien zu Ansehen und bescheidenem Wohlstand hinauf. Franz beansprucht im Familien- und Geschwisterkreis eine Sonderposition. Aus ihr resultiert das „Privileg der freien Existenz“, welches er sich später, freilich oft wenig komfortabel, erlaubt. Der Kindheitserfahrung entsprechend, wählt er mit im Freundeskreis eine freiere Form. Diese bietet ihm – anders als in Ehe, Familie – sozialen Halt und gleichfalls den Freiraum für die wechselnde Mischung von Geselligkeit und „der fürs Komponieren notwendigen Isolation“. Unter anderem Gülkes Arbeit bemüßigte den Tübinger Schubert-Forscher Walter Dürr in seinem Vorwort zum Schubert Handbuch von Bärenreiter/Metzler, einzuräumen, die systematische Musikwissenschaft hätte Aspekte wie Elternhaus, Schule sowie den Freundeskreis bislang zu stark ignoriert. Friedrich Dieckmanns familiengeschichtlicher Ausflug – als Gegenbeispiel dazu – streift Ernst Kretschmers rassenkundliche Theorie „Geniale Menschen“ sowie Gottfried Benns Essay „Das Genieproblem“, beide veröffentlicht 1929. Aus dieser Perspektive erscheinen Vita und Werk Franz Schuberts, dem Kind der „Durchmischungszone“ des alpinen Böhmens, genialogisch vermutlich vorbestimmt. Überzeugender allerdings ist Dieckmann die Gesellschaftsbeschreibung gelungen, die als separates Kapitel eineinhalb Jahrzehnte vor dem Gesamtmanuskript entstand. Was sein reisendes alter ego, Schuberts Zeitgenosse Karl Postl alias Charles Sealsfield, in Metternichs Wien an geistiger Kontrolle und Beschneidung konstatiert, das war um 1980 für Dieckmann verklausuliert zugleich eine kritisch-moralische Sichtung seines eigenen Heimatstaats DDR. Der gebürtige Thüringer Gülke exponiert seine Gesellschaftskritik beim Blick auf Strukturen der Freundeskreise Schuberts. Diese vereinen männerbündnerische Momente ebenso wie die des romantischen Zirkels und die der Boheme. Sie setzen künstlerisches Vermögen voraus und gründen auf allgemein gleicher Gesinnung. In einer politischen Ära, in der – wie Gülke Ernst Bloch zitiert – „die Gesellschaft zweifelhaft geworden“ war, sind sie als Lebensform nicht nur ero-tisch eine lebbare Alternative. Bezüglich Schuberts Eros beharren die vorliegenden Publikationen überwiegend auf einem heterosexuellen Befund. Die Liste seiner „Liebeskandidatinnen“ allerdings ist, wie Gülke schreibt, schmal. Eine Schülerin, die kindliche Caroline Comtesse Esterházy von Galantha, und eine Mitwirkende, die junge Sängerin Therese Grob sind darauf die einzig seriösen Gestalten – sie werden von allen Autoren in Szene gesetzt. Von Belang sind dabei die Nuancen. Stegemanns Schubert wird vom Gefühl für Theres’ beim Komponieren gestört, für Fischer-Dieskau wird dasselbe Anlaß zu „enthusiastischem“ Schaffen. Bei Härtling ist es die Stimme, das Instrument der überlieferterweise blatternarbigen Wiener Nachbarschaftstochter, die des 18jährigen Schöpfers Sinne erwärmt. In Friederike Mayröckers sprachexperimenteller „Wetterzettelchen“-Collage, nachgedruckt bei Reclam, ist die Frau immerhin Medium brieflicher Selbstfindung. Das Wiener ‚Ehe-Consens Gesetz‘ von 1815, so weiß es das Grazer Schubert-Lexikon, schloß die Verbindung mit ihr aus materiellen Gründen – Schubert war seinerzeit „Schulgehülf“ – im Zweifelsfall aus. Sexuellen Verkehr hat Schubert bei Peter Härtling zweifach: ausgiebig und lustvoll mit dem Kindermädchen der Komteß in Ungarn, ein einziges peinliches Mal mit einer wiener Prostituierten. Von ersterer holt er sich in Fritz Hugs gutgemeint-harmloser Monographie „Tragik eines Begnadeten“ die unheilbare Krankheit. Zweitere begegnet er bei Friedrich Dieckmann unter der Überschrift „Krisis“: bezeichnenderweise der zuvor an der Oper gescheiterte Schubert, herabgesunken fast zum Proleten, wird Opfer des „sexuellen Geschäfts“. Der rehabilitierende Gegenpol ist bei Friedrich Dieckmann das Bildnis der Muse. Der Autor findet es in Moritz von Schwindts halbwegs fiktiver Zeichnung „Ein Schubert-Abend bei Joseph von Spaun“ von 1868; im Hintergrund der Schuberts Klavierspiel lauschenden ‚gemischten‘ Gesellschaft hängt es im Salon an der Wand, nicht unähnlich übrigends Joseph Teltschers Porträt. Wie beflissen oder geschickt verdeckt Homoerotisches ins Spiel kommt, beleuchtet auch Schreibvorgänge. Dieckmann mindert zunächst die Beweiskraft von Bauernfelds berühmter Notiz zu Schuberts Bedarf „junger Pfauen wie Benvenuto Cellini“. Er konstatiert jedoch, man werde „eine Ambivalenz der erotischen Em-pfänglichkeit anzunehmen haben“. In Härtlings Roman gerät „Schani“, Schu-berts Untermietpartner Mayrhofer als latenter Geliebter ins Spiel – selbstverständlich bleibt ihr Zusammensein platonisch. Stegemanns Tagebuch offeriert kommentarlos Mayrhofers Liebesgedicht „An Franz“. Peter Gülkes Verweis, im Wien der Metternichzeit sei Homosexualität unter Strafe gestellt gewesen, läßt immerhin ahnen, wie intolerant die realen Verhältnisse waren. Verpaßtes Coming-Out? Internationale Gender-Forschung bemüht seit einiger Zeit auch Differenzen zwischen dem biologischen und dem sozialen ‚Geschlecht‘ als Schlüssel zu Vita und Werk. In ihrem Manuskript „War Schubert schwul?“ forderte so Eva Rieger bereits 1994, Substanz und Überlieferung des Schubert-Bildes im Kontext der frühbürgerlichen Geschlechterdichotymie zu verstehen. Ob Christoph Schwandt in der Frankfurter Rundschau am 26. Juli d.J. Schubert vielleicht deshalb so vehement beim „Gruppensex mit von Schober“ zu outen versucht, klärt sich in seinem einseitigen Beitrag „Fasane, Kraniche, Haselhühner“ nicht auf. Auf gewinnbringende Art immerhin greift die Nanny Drechsler Riegers Anregung auf. In ihrem Beitrag „In Grün will ich mich kleiden“ im Schubert-Heft der Neuen Zeitschrift für Musik befragt sie ein Schlüsselwerk nach der ihm eingeschriebenen geschlechterideologischen Position. Tatsächlich birgt „Die schöne Müllerin“, der berühmte Zyklus, neben der Story der Partnerrivalität, auf einer Metaebene denn auch eine Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlich sanktionierten Männlichkeitsideal. Schuberts Müllergesell’, so Drechsler, versagt oder/und verweigert sich Macht, Potenz und Produktivität, den Traumata ‚bürgerlichen Leistungsprinzips’. Gattungen und Paradigmen Gutgemeint ist die posthume Korrektur: Weltwoche-Redakteur Jürg Ramspeck, läßt Schubert in seinem Beitrag „Die vollendete Sinfonie“ im Todesjahr 1828 noch einmal vom Typhus genesen und verlängert sein Leben, vor allem jedoch sein mögliches Schaffen um fast zweieinhalb Jahrzehnte. Psychobiographisch ist das Rezept kaum haltbar: Erfolg und Besserung der Finanzen nämlich würden, so Ramspeck, das Dasein des wiener Meisters neu ordnen, endlich ereilt auch ihn der fällige Ruhm. Schubert hört Wagners Tannhäuser und wählt sich die Freunde sorgsamer aus. Goethe läßt danken, Komteß Karoline gewährt ein heimliches Stelldichein, eine große Sinfonie Nr. 12 wird Brücke zu Bruckner, Mahler und Strauss. Christophe Vorlets Illustration dazu karikiert Rieders Porträt: im Alter von Vierzig erinnert Schubert an Goethe, weißhäuptig blickt er, stoisch gesetzt, voll von Zufriedenheit. In der Realität des Überlieferns gilt eine andere Rieder-Version. Friedrich Dieckmann kommt auf sie mit Nachdruck zurück. Ein halbes Jahrhundert nach dem berühmten Aquarell nämlich war diese für den Künstler Vorlage für ein Selbstzitat in Öl. Der Dargestellte allerdings ist ein anderer. Rieder zeigt ihn „in steifer Pose“, zum Interrieur zählen nun ein Klavier, eine Feder, Tinte und Notenpapier. „Bedeutsamkeit strahlt aus jeder geglätteten Falte.“ Diese Repräsentationsmalerei des alternden Rieder wirkt, so Dieckmann, bereits an der Schubert-Legende und ist davon ein beredtes Produkt. Rezeptionsästhetisch gesehen, dokumentiert sie Schuberts Erhöhung durch die Nachwelt – ein gutes Jahrhundert lang wird er als der romantische „Liederfürst“ angesehen. Daß eben diese Darstellung den Schutzumschlag von Fischer-Dieskaus „Franz Schubert und seine Lieder“ ziert, ist vermutlich kein Zufall. Denn die kenntnisreiche, auf die Erwartungen einer speziellen Klientel zugeschnittene Publikation an sich, in der die deutsche ‚Instanz des Schubertlieds‘ Problematisches gern bagatellisiert, scheint ganz aus einem derart verehrenden Geist. Komponieren in Trance Zieht man die Anekdoten hinzu, so knüpft sich an die Gattung Lied eine bestimmte Vorstellung künstlerischer Produktion. Der Grazer Komponist Anselm Hüttenbrenner beispielsweise überliefert, nachlesbar in Reclams Anthologie, die Schnelligkeit und Voraussetzungslosigkeit einer Schubertschen Liedkomposition. Aus dem Umfeld der Sänger Vogel und von Schönstein stammt das Wort, Schubert komponiere „wie in Trance“, eine Art „musikalischer Clairvoyant“. Beiderlei fügt sich in das zeitgenössische, bis heute oft populistisch reproduzierte Wunschbild einer „höherwaltenden“, dem „Göttlichen“ oder der „Kunst“ zugeschriebenen Inspiration, darin der Komponist als eine Art empfangendes Medium fungiert. Friedrich Dieckmann hinterfragt diesbezüglich den Begriff des „Genies“ und die Genie-Ästhetik. Er findet den Begriff erstmals und noch materialistisch in Francoix Roux’ Hallenser Wörterbuch von 1767, und er verfolgt seinen ‚Werdegang‘ über Herder und Goethe bis zu Schiller, Hegel und Kant zum Schlagwort einer bis dato einzigartigen ästhetischen Revolution. Deren Resultate, die Verpflichtung der Künste auf Schönheit und Erhabenheit und die Auswahl einer sanktio-nierten Elite, haben hinsichtlich Schuberts musikhistorischer Bedeutung manches an Mißverständnissen erzeugt. Walter Dürr seinerseits nimmt das Spekulative der Anekdoten als Beleg für Schuberts Disziplin des Produzierens, der Peter Gülke als deren Kehrseite eine „spezifische Rücksichtslosigkeit der ersten Erfindung“ entgegenstellt. Der Modus von Vorplanung, Ausführung, Korrektur und Abschrift allerdings gilt beiden in größerem Maß für jene Gattungen, die die Rezeption bis heute vernachlässigt hat und die bisherige Bilder sprengen. Das von Dürr mitbetreute Schubert Handbuch (Bärenreiter/Metzlers), das sich als „Resumee der neuesten Forschung“ versteht und auch Widersprüchliches zuläßt, belegt Schuberts gattungsbezogene Universalität und revidiert den qualitativen Vorrang der Gattung Lied. Gleich mehrere Lücken werden dabei gefüllt, versehen jeweils mit Angaben zu Entstehung, Substanz, Philologie und Rezeption. Ein ganzes Kapitel beispielsweise gilt der Kirchenmusik. Wolfram Steinbeck rekapituliert insgesamt 13 Sinfonien, die Schubert zu schreiben begann, und Ullrich Schreibers Aufsatz zum Bühnenwerk referiert überraschend fünf Skizzen, sieben Fragmente, neun vollständige Partituren. Analyse ohne Netz Peter Gülke, nicht zuletzt verdient um die Wiederentdeckung und Aufführung der sinfonischen Fragmente, darf für sich in Anspruch nehmen, Schubert als kompositionsgeschichtlichen Innovator beschrieben zu haben. Schon bei ersten Arbeiten auf dem Gebiet von Quartett und Sinfonik attestiert seine Monographie dem jungen Schubert revolutionierende Irregularien; Unangemessenheiten, weit jenseits „unbeschwerten Erfahrungserwerbs oder verspielter Formversuche“. In geschärfter, unsentimentaler Darstellung analysiert Gülke ein Komponieren „ohne Netz“, infolgedessen Schubert am Ende seines Lebens – als Einziger öffentlich anerkannt – kurz die künstlerische Nachfolge Beethovens übernimmt. Beredt sind für Gülke Momente des Scheiterns, zum Beispiel vielzitierte mehrjährige Krisen am Anfang des dritten Lebensjahrzehnts, in denen der Umbruch musikalischer Konzepte beginnt. „Lazarus“, zu spät als Oratorium, zu früh als Musikdrama, die „Hymnen an die Nacht“, diverse „Sonaten-Anläufe“ oder die Unvollendete gar sind für ihn erste Schlüsselmomente für das, was man später ,Romantik‘ benennen wird. Kein Zufall und durchaus geschlechtersoziologisch beredt ist der Bildnis-Wechsel, den dieser Neuansatz provoziert. Auf dem Schutzumschlag seines Buches hätte Gülke, so verrät er im Schubert-Heft der Neuen Zeitschrift für Musik, sehr gern die zu Lebzeiten gefertigte Gesichtsmaske Schuberts gesehen: eine „im schönen Sinne männlich zusammengefaßte, nahezu beethovensche Physiognomie“. Bibliographie * Georg Braungart/Walter Dürr (Hrsg.): Über Schubert. Eine Anthologie, Phil. Reclam jun. Stuttgart, Erste Auflage 1996, 310 S. * Friederike Mayröcker: „Franz Schubert oder Wetter-Zettelchen“. Wien, 1976/77. In: Über Schubert. s.o. * Friedrich Dieckmann: Franz Schubert. Eine Annäherung, Insel Frankfurt/Main & Leipzig, Erste Auflage 1996, 379 S., 48,- Mark * Walter Dürr/Andreas Krause (Hrsg.): Schubert Handbuch, Bärenreiter Kassel & Metzler Stuttgart 1997, 1. Auflage, 700 S., 128,- Mark * Dietrich Fischer-Dieskau: Franz Schubert und seine Lieder, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1996, 1. Auflage, 384 S., 49,80 Mark * Peter Gülke: Franz Schubert und seine Zeit, Laaber, 2. Korrigierte Auflage 1996, 400 S., 58,- Mark * Peter Härtling: Schubert. Zwölf Moments musicaux und ein Roman, Luchterhand, Hamburg/Zürich Neuauflage 1997, Sonderpreis * Fritz Hug: Franz Schubert. Tragik eines Begnadeten, Heyne Sachbuch München, Neue überarbeitete Auflage 1996, 556 S., 16,90 DM * Neue Zeitschrift für Musik 1/97: Franz Schubert, 1997, Schott Mainz, Heft 1/97 Diverse Beiträge S. 4–47, 14,- Mark * darin auch: Nanny Drechsler: „In Grün will ich mich kleiden“ * Jürg Ramspeck: „Die vollendete Sinfonie. Ein unmöglicher Beitrag“. In: Die Weltwoche, Zürich, Nr. 4/97 vom 23.01.97, S. 37–39 * Michael Stegemann: „Franz Schubert. Ich bin zuende mit allen Träumen“, Piper München & Zürich, 1. Auflage 1996, 487 S., 49,80 Mark * Ernst Hilmar/Margarete Jestremski: Schubert Lexikon, Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz/Austria, 2. Auflage 1997, 534 S. * Eva Rieger: „Junge Pfauen und Cellini ... war Schubert schwul?“, Manuskript Uni Bremen, 1994 * Christoph Schwandt: „Fasane, Kraniche, Haselhühner“. In: Frankfurter Rundschau, 26.07.97 ZB S. 3

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