Die Darstellung von Gewalt in der Kunst ist ein unerschöpfliches Thema. Was kann Kunst überhaupt über Gewalt mitteilen, was darf sie darstellen? Gibt es Grenzen der Darstellbarkeit? Grenzen, die von der Kunst, ihren Ausdrucksmitteln selbst gezogen werden, aber auch durch die Rezeptionsfähigkeit des betroffenen Publikums: Was kann ein Mensch im Theater, im Film, vor einem Bild ertragen, wenn es um die Abbildung von Mord, Totschlag, Folter und Vergewaltigung geht?
Dabei sind zugleich die ästhetischen Abgrenzungen der ein- zelnen Gattungen zu beachten: Das realistische Filmbild wirkt bei Gewaltdarstellungen in der Regel direkter , aggressiver, auch abstoßender auf den Betrachter als das oft nur „scheinbar” statuarische, beruhigte Gemälde. Das liegt auch daran, dass im Film, ebenso auf dem Theater oder in der Oper, lebendige Menschen, eben die Schauspieler-Sänger, die Gewalttätigkeit exekutieren, indem sie diese entweder möglichst realitätsnah vorspielen oder (vorsichtshalber) in stilisierte Formen, Gesten, Bewegungen überführen. Wenn auf dem Theater im Spiel ein Mensch gequält wird, besteht stets die Gefahr, dass ein sensibler Zuschauer das Gezeigte in seine persönliche psychische Sphäre versetzt und dann entsprechend empört protestiert: auch in einer Form der inneren Abwehr. Der Zuschauer will das auf der Bühne nicht so drastisch vorgeführt bekommen. Man weiß ja, dass so etwas in der Realität geschieht, doch in der Kunst muss doch nicht alles gezeigt werden: die Andeutung würde genügen. Das Theater argumentiert dagegen: das Phänomen der Gewalt kann nur dann nachvollziehbar erfahren werden, wenn sich auf der Szene oder im Filmbild diese Gewalt für den Zuschauer als physische Bedrängung und Bedrohung mitteilt.
Man müsste Beispiele anführen, um die komplexe Thematik begreifbarer und anschaulicher werden zu lassen: Pasolinis „Saló”-Film, Sam Peckinpahs Filme mit ihren oft zeitlupenhaft choreographierten Gewaltsequenzen, Luc Percevals theatralischer Zusammenschnitt der Shakespear’schen Königsdramen und deren Gewaltexerzitien – das wären einige Titel für die Diskussion. Adornos fragenden Zweifel, ob es möglich sei, nach Auschwitz noch lyrische Gedichte zu schreiben, beantwortete Paul Celan mit seiner „Todesfuge” – doch Adornos Frage behält unverändert ihre Richtigkeit: Was kann, was darf Kunst auf Ungeheuerliches antworten?
Ungeheuerliches, das einmal geschah, gleitet mehr oder weniger rasch in die Historizität. Das Schreckliche wird zum effektvollen Schauerdrama. Nur mit äußerster, retrospektiver Anstrengung könnte man sich in die Seelen jener Hugenotten zurückversetzen, die anno 1572 in der so genannten Bartholomäusnacht in Paris zu Tausenden hingeschlachtet wurden. Als Christopher Marlowe 1592 sein Drama „The Massacre at Paris” schrieb, mag er die Vorgänge vielleicht noch als politische Gegenwart empfunden haben. Doch in Giacomo Meyerbeers Hugenotten-Oper dienen die einstigen Schrecknisse vor allem als eine Art couleur locale für ein bewegendes Liebesdrama.
Dabei besitzt die Musik eine eigene Sprachfähigkeit, um zum Thema Gewalt etwas zu „sagen”: Grelle Klänge, scharfe Dissonanzen, gezackte Rhythmen, harte Schläge der Percussion, weitgespannte Gestik – Bartóks „Wunderbarer Mandarin” fällt einem spontan ein, auch Strawinskys „Sacre du Printemps” oder der „Tanz ums Goldene Kalb” in Schönbergs „Moses und Aron”. Eine spezifische Gewaltfähigkeit liegt ohnehin im musikalischen Ausdruckskanon und harrt nur der Entbindung im rechten dramatischen Augenblick, in der Oper, in Oratorium und Passion, aber auch in rein instrumentaler Musik: ein weites Feld.
Wer einmal Konzerte des österreichischen Musikers und Komponisten Wolfgang Mitterer (geboren 1958 in Osttirol) besucht – besser: durchlebt – hat, versteht rasch, was Mitterer an der Behandlung des Bartholomäus-Stoffes wohl gereizt hat: das Phänomen einer gesellschaftlich begründeten Gewalt und Aggression, die von einem bestimmten Augenblick an nicht mehr zurückgenommen werden kann und sich hemmungslos ausbreitet. Mitterer vertont nicht die alte Geschichte aus Paris anno 1572, als anlässlich der Hochzeit des protestantischen Königs von Navarra mit der katholischen Prinzessin Marguerite von Frankreich sechzehntausend hugenottische Festgäste auf Veranlassung des Herzogs von Guise brutal „massakriert” wurden. Mitterer montiert zusammen mit Stephan Müller in seinem „Massacre” (englisch ausgesprochen) unter Verwendung von Marlowes Schauspiel achtzehn Szenen, die man als aktuelle Variationen zum Thema Gewalt betrachten kann. Fünf Sänger und vier Tänzer sowie ein Ensemble von neun Instrumentalisten erstellen mit Hilfe von vorbereiteten Tonbändern raffiniert ausgeklügelte Hör-Bild-Räume, in denen choreographierte Aktionen zitathaft die historischen Vorgänge suggerieren, die dann jedoch radikal davon abstrahieren zu einer dichten Folge von Gewaltszenen, in denen sich die Psychologie der Gewalt eindringlich spiegelt. Dieses „Massacre” ereignet sich heute in Nordirland und im Baskenland ebenso wie im Nahen Osten und vor kurzem noch auf dem Balkan – weiter zurück in die neuere Geschichte füllt sich die Statistik noch schneller und bedrückender auf. Mitterers Musik, basierend auf den Ausdrucksmitteln von elektronischer Musik und experimentellem Jazz, verknüpft mit den Techniken kollektiven Improvisierens, besitzt meist einen äußerst expansiven Gestus, dem es nicht an struktureller Raffinesse fehlt. Für seine erste „Oper” nun schien sich der Komponist Zügel angelegt zu haben. Mitterer organisiert gleichsam eine kompositorische Struktur, in der sich psychische Zustände musikalisch abbilden: der Ausbruch von Gewalt, die Stille der Angst, die Brutalität des Kampfes, Mordgier und gefährliche Ruhe. Mitterer verbindet elastisch elektronische Zuspielungen mit verstärktem Live-Instrumentarium, in den mal gedehnten, mal sich verengenden „Klangraum” ergießen sich, ebenfalls verstärkt, Singstimmen in oft schwindelerregenden hohen Frequenzen: die Hysterie in der Katastrophe. Mitterers „Massacre”-Klang-Raum funktioniert auch als Psycho-Laboratorium: Die Musik verweist fast wissenschaftlich streng auf die Störungen eines Bewusstseins, was solche Katastrophen erst möglich werden lässt.
Die Inszenierung des Choreografen Joachim Schlömer reagiert präzise auf die kompositorischen Vorgaben: Die Sänger und Tänzer spielen keine Rollen, sondern changieren zwischen den Figuren, benutzen ihre Körper und Glieder zu plastischen Demonstrationen, ballen sich in der Gruppe zu eindringlichen Großformen. Man betrachtet gleichsam eine Anleitung zur Ausbildung von Gesten und Gebärden der Gewalt, bei der vielleicht noch etwas zuviel mit Theaterblut und schwarzer Todesfarbe herumgespritzt wird. Zwischen dem hohen Kerzenarrangement (Bühnenbild Katrin Brack) vollziehen sich die Rituale eines Theaters der Grausamkeit, dessen Requisiten nicht unbedingt neu sind, aber im Einklang mit der Musik eine vitale Funktion übernehmen. Die Intensität der Aufführung verdankte sich nicht nur ihrem experimentellen Elan, sondern auch dem vitalen Engagement der Mitwirkenden: der Sänger Georg Nigl (Guise) und Alexander Plust (König), der Sängerinnen Annette Stricker, Katia Plaschka, Bettina Pahn, Ingrid Weisfelt, vor allem aber des Dirigenten Peter Rundel und seiner Instrumentalisten.