Seit etwa sieben Jahren gibt es in der Neuen Musik eine Diskussion, an welcher alle einschlägigen deutschsprachigen Musikjournale beteiligt sind und in deren Verlauf sich bislang an die 30 Autoren zu Wort gemeldet haben. Ausgelöst wurde sie durch ein Gedankenexperiment über die möglichen Folgen der Digitalisierung in der Neuen Musik, das ich auf der Frühjahrstagung in Darmstadt 2008 angestellt hatte,1 welches zwei Jahre später zu dem von Claus-Steffen Mahnkopf initiierten Band „Musik, Ästhetik, Digitalisierung – Eine Kontroverse“ führte.2
Zentral für die Debatte sind sowohl die konzeptuellen Arbeiten als auch die theoretischen Texte von Johannes Kreidler, die 2012 in Buchform unter dem Titel „Musik mit Musik“ erschienen.3 Im selben Jahr konnte ich auch meine Musikphilosophie „Die digitale Revolution der Musik“ publizieren,4 in welcher ich versuchte, auf die genuin musikphilosophischen Fragestellungen eine Antwort zu geben: Wie ändern sich die Idee, das Selbstbild und der Begriff von Neuer Musik, wenn es infolge neuer digitaler Technologien zu einer allgemeinen Demokratisierung der Produktion, Distribution und Rezeption von Neuer Musik kommt? Welche normativen Leitbilder werden dabei technologisch entzaubert und welche werden attraktiver und rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit? Wie kann das System der ästhetischen Kategorien neu konfiguriert werden, wenn die alten Selbstbeschreibungsmuster in der Neuen Musik ihre Orientierungskraft verlieren?
Um einen atmosphärischen Eindruck zu vermitteln, wie man in dieser ersten Phase der Debatte auf das Reizwort „Digitalisierung“ reagierte, sei daran erinnert, dass Max Nyffeler in seiner nmz-Kolumne „www.beckmesser.de“ mit der Faschismuskeule vor den „Neofuturisten“ warnte, und zwar mit dem Hinweis, dass die Futuristen von einst als Mussolini-Verehrer endeten;5 dass Reinhard Oehlschlägel von den „MusikTexten“ die Aufregung um die Digitalisierung für übertrieben hielt, weil wir uns überhaupt nicht in einem Zeitalter der digitalen „Revolution“ befänden, sondern höchstens von einer digitalen „Evolution“ die Rede sein könne;6 und Volker Straebel meinte gar, die digitale Revolution wäre schon zu Ende, weil es Stimmen in der elektroakustischen Musik gibt, die von „postdigitaler Musik“ sprechen.7
Das Selbstverständnis der Neuen Musik
Entscheidend für eine weitere Öffnung der Kontroverse waren dann zwei Aufsätze von Michael Rebhahn, die das Selbstverständnis der Neuen Musik ganz direkt in Frage stellten. In seinem Darmstädter Vortrag „Hiermit trete ich aus der Neuen Musik aus“8 beschreibt er die Abneigung jüngerer Komponisten, ihre Arbeiten – obwohl sie im Kontext der Neuen Musik entstehen – weiterhin als „Neue Musik“ zu bezeichnen. Da wohl der Rückzug aus einer Kunstszene, die einen nährt, keine empfehlenswerte Strategie ist, machte Rebhahn ein knappes Jahr später in seinem Harvard-Vortrag „No Problem! Approaches towards an artistic New Music“9 einen neuen Vorschlag, der für viel Aufregung sorgte: Und zwar, die Neue Musik nicht zu verlassen, sondern als Kunstmusik zu redefinieren und die traditionelle Neue Musik – der es primär um nuancierte ästhetische Erfahrungen geht – als das zu begreifen, was sie eigentlich sei, nämlich – in Anlehnung an die Contemporary Classical Music in den USA – zeitgenössische klassische Musik. Darüber hinaus enthält der Vortrag einen Hörtest, welcher es verdient, nach seinem Urheber benannt zu werden. Dem Publikum wurden Stücke vorgespielt, die vertraut nach „Neuer Musik“ klangen, und die Fangfrage war: Wer hat’s komponiert? Erstaunlicherweise handelte es sich dabei um drei, vier unveränderte Ausschnitte von Neue Musik-Kompositionen, die einfach übereinander kopiert wurden. Was der Rebhahn-Test evident werden ließ, ist, dass die Neue Musik längst einen Standardsound ausgebildet hat und dass sie ihren Neuheits- oder Innovationsanspruch heute definitiv nicht mehr über das ästhetische Material einzulösen vermag.
Eine Neue Musik, die ihrem Kunstanspruch gerecht wird, findet sich für Rebhahn bei jenen Komponisten, die sich an der Leitidee der „Diesseitigkeit“ orientieren. Für diese Selbstbeschreibung sind zwei Aspekte wichtig: zum einen, dass man verstärkt mit alltäglichem Klangmaterial arbeitet, und zum anderen, dass diese Komponisten die Selbstisolation der Neuen Musik damit aufzubrechen versuchen, dass sie einen direkten Wirklichkeitsbezug suchen, bei dem sich im Medium einer solchen Musik auch ästhetische Gehalte erschließen, die im Diesseits, im Hier und Jetzt unserer Kultur und Lebenswelt verortet sind.10 Zu denken gab allerdings die scharfsinnige Bemerkung von Alexander Strauch im „Bad Blog of Musick“, dass man den Rebhahn-Test genauso gut auf die ‚diesseitigen‘ Komponisten anwenden könne, man bekäme dann auch einen Neue Musik-Sound, der, wenn auch anders, so doch genauso standardisiert klingt wie die kompilierte Zeitgenössische Klassik. Ehe es andere tun, hat Hannes Seidel, der mitgemeint war, die Probe aufs Exempel gleich selbst abgeliefert.11
Obwohl die vorgeschlagene Unterscheidung zwischen einer diesseitigen Kunstmusik und einer Zeitgenössischen Klassik theoretisch eindeutig ist, so kann sie in der Praxis leicht kollabieren. Auch wenn mit Geräuschen aus der diesseitigen Lebenswelt komponiert wird, so werden diese Geräusche zerlegt, verfremdet, rekontextualisiert und mit anderem Klangmaterial gemixt, was stets die Gefahr in sich birgt, dass vom intendierten Realitätsbezug der Stücke am Ende nur noch das Versprechen übrig bleibt und alle Lebensweltkonnotationen der Klänge gelöscht sind. „Diesseitige Musik“ würde dann eine Art „musique concrète“ im Sounduniversum von heute, welche die Grenze zwischen Kunst und Leben nicht etwa aufhebt, sondern auf ihre Weise zementiert. Im Prinzip lässt sich ein solcher Rückfall in die Tradition aber vermeiden, indem man die Stücke stärker konzeptualisiert, sodass auch der gesellschaftliche Rezeptionskontext nicht einfach vorausgesetzt, sondern mitkonstruiert wird. Vor allem an diesem Punkt, in ihrem Umgang mit Musikkonzepten, unterscheiden sich die Komponisten der „Diesseitigkeit“ vom „Neuen Konzeptualismus“, jener zweiten Strömung, durch die sich das tradierte Selbstverständnis der Neuen Musik heute herausgefordert sieht.
Die Debatte um die „Konzeptmusik“
Den Begriff der „Konzeptmusik“ hatte ich bereits in meiner Musikphilosophie eingeführt, woraufhin Tobias Schick 2013 in „Musik und Ästhetik“ kritisierte, dass die Idee der Gehaltsästhetik in meiner Theorie auf Konzeptmusik reduziert würde.12 Ich habe daraufhin mit dem Aufsatz „Konzeptmusik als Katalysator der gehaltsästhetischen Wende“ den Begriff der Konzeptmusik historisch und systematisch ausgearbeitet und ihre transformative Funktion – von einem materialästhetischen Paradigma, hin zu einem gehaltsästhetischen Paradigma – in der Neuen Musik beschrieben.13 Der eingereichte Text hat die „Neue Zeitschrift für Musik“ im Januar 2014 dazu veranlasst, ein Themenheft „Konzeptmusik“ herauszugeben, in dem unter anderem Johannes Kreidler erläutert, was „das Neue am Neuen Konzeptualismus“ ist.14 Die Texte haben bei Frank Hilberg in den „MusikTexten“ einen Wutkommentar ausgelöst und Helga de la Motte-Haber am selben Ort zu der umfassenden Stellungnahme herausgefordert, dass hier weder theoretisch noch praktisch etwas Neues und Innovatives verhandelt worden sei.15 Als ich im November eine Antwort an die „MusikTexte“ schickte (die ungefähr so lang wie die Beiträge von Hilberg und de la Motte-Haber zusammen ist) wurde mir der Text auf etwa ein Sechstel gekürzt. Meine Replik „Eulen, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Nazivergleiche“ erscheint deshalb in voller Länge im „Bad Blog of Musick“ der nmz (http://blogs.nmz.de/badblog).
Seit Beginn der Debatte 2008 hat sich die Situation in der Neuen Musik grundlegend verändert. Wie vorherzusehen war, hat das Eindringen der Digitalisierung in die Produktions- und Distributionssphären der Neuen Musik auch zu einer Transformation ihres Dispositives geführt, wodurch sich nicht nur ihre Institutionalisierungsform verändert hat, sondern auch neue Spielräume für alternative Selbstbeschreibungen entstanden sind.16 So steht die „diesseitige“ Musik wie die Konzeptmusik konträr zur tradierten Idee der Neuen Musik, bei der es sich um eine „invertierte Idee der absoluten Musik“17 gehandelt hat. Wenn man sich die Programme von Donaueschingen und Darmstadt der letzten Jahre anschaut, dann sieht man bereits, dass es eine klar erkennbare Präferenz gibt, allem, was den Anschein einer Alternative zu dieser überkommenen Idee von Neuer Musik hat, eine Chance zu geben und zur Aufführung zu verhelfen. Und hier ist, gerade weil es im Windschatten der digitalen Revolution so viele neue, kaum vorhersehbare Optionen für Komponisten und Ensembles gibt, auch mit viel Neuem zu rechnen. Diesseitigkeit und Konzeptualismus sind dabei nicht etwa der Endpunkt, sondern eher der Umschlagpunkt, in welchem die Neue Musik sich als Kunstmusik neu erfindet.
Zwei Aspekte dürften für den Erfolg eines solchen Paradigmenwechsels entscheidend sein: einerseits, dass der Anspruch auf Neuheit in Zukunft primär über ästhetisch vermittelte Gehalte eingelöst wird, und andererseits, dass ein Traditionsbezug zur Neuen Musik des 20. Jahrhunderts mit all ihren materialästhetischen Errungenschaften gewahrt bleibt.18 Allerdings müsste dazu der Konflikt zwischen Innovation und Tradition, der sich über Jahrzehnte in der Neuen Musik angestaut hat, auch auf institutioneller und intellektueller Ebene ausgetragen werden. Sollte dies nicht gelingen, wird sich die Aufspaltung der Neuen Musik in eine „Kunstmusik“ und in eine „Zeitgenössische Klassik“ kaum verhindern lassen.
Wenn es ein Kriterium gibt, über das die Neue Musik auch in Zukunft gesellschaftliche Akzeptanz und Unterstützung einfordern kann, dann ist dies die Form ihrer Selbstreflexivität. In einer stark ausdifferenzierten Musikkultur ist das entscheidende Alleinstellungsmerkmal der Neuen Musik, dass sie ihren eigenen Begriff, ihren Neuheitsanspruch und ihre gesellschaftliche Funktion reflektiert und sich eben nicht nur daran ausrichtet, was kulturell gerade anschlussfähig ist oder sich auf einem Markt durchsetzt.
Anmerkungen:
1 Harry Lehmann: Die Digitalisierung der Neuen Musik – Ein Gedankenexperiment, Vortrag zur 62. Arbeitstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung vom 26.–29. März 2008 in Darmstadt. Veröffentlicht in: Vernetzungen. Neue Musik im Kontext von Wissenschaft und Technik, INMM Darmstadt, Bd. 49, Mainz: Schott 2009, S. 33–43.
2 Johannes Kreidler, Harry Lehmann, Claus-Steffen Mahnkopf: Musik, Ästhetik, Digitalisierung – Eine Kontroverse, Hofheim: Wolke 2010.
3 Johannes Kreidler: Musik mit Musik. Texte 2005 – 2012, Hofheim: Wolke 2012.
4 Harry Lehmann: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz: Schott 2012.
5 Max Nyffeler: Die Neofuturisten, in: neue musikzeitung 2/2011, S. 6, http://www.nmz.de/artikel/die-neofuturisten-wwwbeckmesserde.
6 Reinhard Oehlschlägel: Zur ‚Digitalen Revolution‘ in: MusikTexte 125/2010, S. 3. Siehe auch die Entgegnung, Harry Lehmann: Zum Begriff der Digitalen Revolution, in: Positionen 84/2010, S. 30–33.
7 Volker Straebel: Vordigitales Bewusstsein, in: MusikTexte 126, S. 23–26.
8 Michael Rebhahn: Hiermit trete ich aus der Neuen Musik aus. Über das Problem einer Etikettierung wider Willen, Vortrag bei den 46. Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt, 20. Juli 2012. Veröffentlicht in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Band 22, Mainz: Schott 2014.
9 Michael Rebhahn: No Problem! Approaches towards an artistic New Music, Vortrag auf der Tagung „New Perspectives on New Music“ am 13. April 2013 an der Harvard University. http://hgnm.org/wp-content/uploads/2014/09/Rebhahn-Lecture-Harvard.pdf.
10 Beide Aspekte finden sich gut beschrieben bei Martin Schüttler: Diesseitigkeit, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Band 21, Mainz: Schott 2012, S. 14–16.
11 Alexander Strauch: Diesseits Überwindung der Postmoderne oder zuerst das Wort vor der Musik, Bad Blog of Musick, 29. Dezember 2013. Der Link zur Kompilation von Hannes Seidel findet sich im Kommentar.http://blogs.nmz.de/badblog/2013/12/29/diesseits-uberwindung-der-postmoderne-oder-zuerst-das-wort-vor-der-musik/.
12 Tobias Eduard Schick: Ästhetischer Gehalt zwischen autonomer Musik und einem neuen Konzeptualismus, Musik & Ästhetik 66/2013, S. 47–65.
13 Harry Lehmann: Konzeptmusik. Katalysator der gehaltsästhetischen Wende in der Neuen Musik, in: NZfM 1/2014, in drei Teilen S. 22–25, 30–35, 40–43.
14 Johannes Kreidler: Das Neue am Neuen Konzeptualismus, in: NZfM 1/2014, S. 44–49.
15 Frank Hilberg: Sie spielen doch nur Lego …, in: MusikTexte 140/2014, S. 3–5, http://musiktexte.de/.media/Kommentar_140.pdf; Helga de la Motte-Haber: Endlich auf dem richtigen Weg? Konzeptmusik – ein neues Genre?, in: MusikTexte 141/2014, S. 41–43.
16 Siehe das Kapitel „Dispositiv“ in Harry Lehmann: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz: Schott 2012, S. 9–15.
17 Siehe das Kapitel „Absolute Musik“ in Harry Lehmann: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz: Schott 2012, S. 94ff.
18 Welche ästhetischen Dimensionen und Qualitäten die Neue Musik im 20. Jahrhundert konkret entdeckt hat, beschreibe ich im Rahmen einer „Theorie der ästhetischen Erfahrung“, die ich demnächst veröffentlichen werde.