„Sehet! – Wen? – den Bräutigam, seht ihn! – Wie? – als wie ein Lamm …“ Spätestens wenn der zweite Chor im Eröffnungssatz seine Zwischenfragen stellt und kurz darauf die Ripieno-Soprane den Choral „O Lamm Gottes unschuldig“ über die im 12/8-Takt sich wiegende Textur legen, sind wir in den Bann von Bachs Passionsmusik nach Matthäus geraten. Und dies ist auch der Moment, an dem Bachs Handschrift ihre ganze Faszination entfaltet.
Mitten in das feingliedrige, den von den Notenzeilen begrenzten Raum beinahe sprengende Satzbild hinein formuliert der mit roter Tinte ruhig und klar geschriebene Choral seine Botschaft. Dessen Worte braucht Bach gar nicht erst zu notieren. Die Melodie trägt diese in sich, hat sich auf den beiden plötzlich auftauchenden zusätzlichen Notenzeilen – die zweite Orgel geht parallel mit – Platz zur Entfaltung geschaffen.
Ehrfürchtig kann man solche im Schriftbild ihren sinnlichen Ausdruck findenden Momente weiterverfolgen: kann der Erregung der gleichfalls rot notierten Evangelistenworte nachspüren oder das auch optisch nachvollziehbare Ineinandergreifen von Solo- und Gambenstimme in der Bassarie „Komm süßes Kreuz“ mitverfolgen. Vor allem aber darf man sich darüber freuen, dass die neue, bei Bärenreiter in mustergültiger Aufmachung erschienene Faksimile-Edition nun einen Zustand dieser Reinschrift der „Zweychörigen Paßion“ von 1736 dokumentiert, der einen Erhalt auch für die Zukunft sicherstellt.
Danach hatte es angesichts des bis Ende der 1990er-Jahre unaufhaltsam voranschreitenden Tintenfraßes durchaus nicht ausgesehen. Nach langen konservatorischen Debatten setzte sich das Verfahren des Papierspaltens durch, bei dem zwischen die Vorder- und Rückseiten „ein alkalisch gepuffertes Papier“ eingelegt wird, „welches das wieder zusammengefügte Blatt mechanisch stabilisiert“ – so Martina Rebmann, Leiterin der Musikabteilung der Berliner Staatsbibliothek, in ihrem Nachwort zur Edition. Die einstige Gefährdung des Dokuments bildet das neue Faksimile freilich schonungslos ab. Kenner der beiden früheren Editionen (Insel Verlag 1922, Deutscher Verlag für Musik 1966) werden sich an das stärker durchscheinende, deutlich verfärbte Papier erst gewöhnen müssen. Vor allem aber verzichtet die Neuausgabe auf die Retuschen, mit denen in den alten Faksimiles der deutlich verblassten roten Tinte aufgeholfen worden war. Christoph Wolffs Nachwort kommentiert knapp und klar die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Partitur und würdigt das einzigartige Zusammenspiel von Picanders „Poesia“ und Bachs „Musica“.
Auf faszinierende Weise verbinden lässt sich der neue Blick auf Bachs zeitloses Meisterwerk mit dem Hören der neuen Gesamtaufnahme, die René Jacobs mit dem fabelhaften RIAS Kammerchor und der einfühlsam agierenden Akademie für Alte Musik Berlin realisiert hat. Sie ist gleichsam die tönende Argumentation für eine aufführungspraktische These, die der Bach-Forscher Konrad Küster erstmals im Bach-Handbuch (Bärenreiter 1999) dargelegt hat und die er nun auch im ausführlichen CD-Booklet noch einmal plausibel ausführt.
Demnach waren der zweite Chor und die ihm zugeordneten Solisten bei der Erstaufführung der neuen Passionsfassung 1736 in der Leipziger Thomaskirche bei der zweiten Orgel auf der Schwalbennest-Empore postiert. Deren Passagen hatten somit eine Fernwirkung, was Küster in einen Zusammenhang mit der Textdichtung bringt. Seiner Auffassung nach – ihr schließt Jacobs sich an – ist der Hauptchor am Passionsgeschehen unmittelbar beteiligt, während der Fernchor dieses aus der Distanz verfolgt und sich dieselben Fragen stellt wie die im Kirchenraum anwesenden Gläubigen.
Diese Fernwirkung hat Jacobs nun im Berliner Teldex Studio simuliert und erzielt damit vor allem im Chorischen bezwingende Momente, die tiefer gehen als der reine Soundeffekt. Elektrisierend sind beispielsweise die Echo-Antworten in der Nummer 36d („Wer ist’s, der dich schlug“), und Passagen wie die Tenorarie Nr. 34 („Geduld, Geduld!“) legen den Gedanken nahe, Bach habe hier eben deswegen so bildhaft, ja fast plakativ komponiert, um die räumliche Distanz überwinden zu können.
Evangelist Werner Güra und die weiteren Solisten fügen sich ausgezeichnet in Jacobs’ Konzept ein, das allerdings bisweilen in seiner hörspielartigen Dramatisierung auch etwas forciert wirkt (Nr. 26, „Welchen ich küssen werde …“). Mit großer Ruhe lässt der Dirigent im bewussten Kontrast dazu die Choräle ausschwingen, deren Binnenfermaten er – im Gegensatz zur vorherrschenden historisierenden Tendenz – stark dehnt.
Die auch klanglich gelungene Aufnahme wird von einer 45-minütigen Filmdokumentation begleitet, als Bonus ist die Bassarie „Komm süßes Kreuz“ auch in der ursprünglichen Fassung mit Laute zu hören. Sie ist – Freunde der Gambe mögen verzeihen – die bessere.
Wer sich mit dem Sänger, Dirigent und Repertoireerkunder René Jacobs näher beschäftigen möchte, dem sei außerdem der Band „Ich will Musik neu erzählen“ (Bärenreiter/Henschel) empfohlen. Im thematisch gegliederten Gespräch mit der Musikwissenschaftlerin Silke Leopold gibt Jacobs ebenso kenntnis- wie geistreiche Einblicke in seine Art mit Musik umzugehen. Deutlich wird dabei vor allem eines: Das Wissen über historische Aufführungspraktiken ist für Jacobs immer nur der Ausgangspunkt für eigene interpretatorische Entscheidungen, die am Ende künstlerisch, nicht wissenschaftlich zu begründen sind. Der Blick in die alten Handschriften mag also Ehrfurcht gebietend sein, vor Ehrfurcht zu erstarren wäre aber die falsche Konsequenz.
Johann Sebastian Bach: Matthäuspassion BWV 244, Faksimile, hrsg. von Christoph Wolff und Martina Rebmann (Documenta musicologica II/47). Kassel, Bärenreiter, 2013; Halbleder, 195 Seiten, € 348,-, ISBN 978-3-761822-94-4
Johann Sebastian Bach: Matthäuspassion: Werner Güra, Johannes Weisser, Bernarda Fink u.a., RIAS Kammerchor, Staats- und Domchor Berlin, Akademie für Alte Musik, René Jacobs. harmonia mundi HMC 802156.58 (2 SACDs, 1 DVD)
René Jacobs im Gespräch mit Silke Leopold – „Ich will Musik neu erzählen“. Kassel/Leipzig, Bärenreiter/Henschel, gebunden, 223 Seiten, € 24,95, ISBN 978-3-761822-66-1