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Laborarbeit für höhere Liedkunst

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„LiederWerkstatt“ Bad Kissingen ist an ein vorläufiges Ende gekommen
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„Das ist eigentlich das Spannende an dieser Liederwerkstatt, dass man die Möglichkeit hat, mit den Leuten, die das geschrieben haben, wirklich zu sprechen.“ Der Bariton Peter Schöne redet zum Thema Liedkunst – nicht bei Schubert, Schumann oder Brahms. Sondern mit den „Leuten“ meint er all die lebenden Komponisten, deren greifbare Nähe er sucht und findet. So geschehen bei der vierzehnten Ausgabe der „LiederWerkstatt“ des Festivals Kissinger Sommer, mit etlichen Uraufführungen neuer Gesänge in zwei Konzerten. Peter Schöne bot frisch gelieferte und einstudierte Liedkompositionen von dem Deutschen Gordon Kampe und der Aserbaidschanerin Franghiz Ali-Zadeh, einträchtig neben Liedern Robert Schumanns und Peter Tschaikowskys.

Begonnen hatte der junge Bariton mit Schumanns Eichendorff-Lied „Der frohe Wandersmann“ sowie der genial düsteren Heinrich-Heine-Vertonung „Mein Wagen rollet langsam“, die er mit markanter Stimme und Gestik in eine Art imaginäre Szene verwandelte: Reine Dämonie entfaltet sich in einem unscheinbaren Lied – das Trauma der Erinnerung an eine von Schreckgespenstern heimgesuchte Kutschfahrt, von Schöne herzbeklemmend im Gesang und von Jan Philip Schulze hellsichtig am Klavier heraufbeschworen. Es war der Auftakt in der lyrischen Versuchsanstalt „LiederWerkstatt“ von Bad Kissingen.

Das Laboratorium neuer Liedkunst –eine nicht nur für die Musiker nützliche Institution, eine der schönsten Nebenerscheinungen in weiträumiger Festivalkultur. Vor mehr als einem Jahrzehnt hatte die Gründerin und Leiterin des „Kissinger Sommer“, Kari Wolfsjäger, die Idee für die lyrische Experimentierwerkstatt: Man müsse sie doch mal zusammenrufen, die Komponisten, Sänger und Pianisten, auf dass sie der etwas altmodisch gewordenen Gattung Kunstlied gemeinsam auf die Sprünge helfen. Das begann 2004 im oberbayerischen Bad Reichenhall und übersiedelte drei Jahre später ins musikaffine unterfränkische Bad Kissingen. Und die „LiederWerkstatt“ soll es, so wird beteuert, auch nach der jetzt beendeten Kissinger Festivalintendanz Kari Wolfsjägers weiter geben. In welcher Struktur, Form und Intensität, das steht in den Sternen.

Das Konzept wäre jedenfalls tragfähig genug, es hatte von Anfang an mit dem Interesse an Nachwuchskünstlern zu tun, zumal auch mit der Lust auf musikalische Moderne. Und ein literarischer Schwerpunkt schuf die Struktur: In jedem Jahrgang steht nur ein einziger Dichter im Mittelpunkt der Textvertonungen. Selbstverständlich gehörten bisher dazu Goethe, Schiller und Mörike, Hölderlin, Eichendorff, Heine und Rilke, aber auch Shakespeare, sogar Petrarca und Michelangelo. Die Komponisten der Liedvertonungen waren zunächst vier an der Zahl: die älteren Aribert Reimann und Wilhelm Killmayer, die jüngeren Wolfgang Rihm und Manfred Trojahn. Sie alle kamen angereist. Andere traten zeitweise hinzu: Isabel Mundry, Moritz Eggert und Jan Müller-Wieland. Der Berliner Pianist und Liedprofesssor Axel Bauni kuratierte die attraktiven Konzertprogramme, sorgte für die Konfrontation des musikalisch Neuen mit der Liedromantik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Zu den Sängern gehörten in diesem Jahr die Sopranistinnen Caroline Melzer und Sarah Aristidou sowie die Baritone Peter Schöne und Matthias Winckhler. Die Klavierbegleitung übernahmen neben Axel Bauni abwechselnd Jan Philip Schulze und Siegfried Mauser.

„Russland“ hieß das übergreifende Thema diesmal, mit Vertonungen lyrischer Texte von russischen Dichtern. Immerhin acht Uraufführungen in zwei Konzerten: neue Lieder der Komponisten Wolfgang Rihm und Manfred Trojahn, von Wladimir Tarnopolski und Walter Zimmermann, beide zum ersten Mal in Kissingen, von Gordon Kampe und Alexandru Sima, Bernd Redmann und Franghiz Ali-Zadeh. Gleich nach Peter Schönes Schumann-Liedern präsentierten die Sopranistin Caroline Melzer und Axel Bauni am Klavier Pasternaks großes düsteres Naturbilderpoème „Lasst uns Worte verschwenden“ in der Vertonung durch den 1955 geborenen russischen Komponisten Vladimir Tarnopolski. Auf eindringliche Weise bemächtigt er sich der Dunkelheit und Verzweiflung in Pasternaks Versen, indem er Worte und Sätze ausdrucksmächtig stammeln und stocken lässt – oder sie in die Ausbrüche der Trauer und Verlassenheit führt: „Ich weiß nicht, was im Dunkel jenseits der Gräber ist . . .“ Tief im Klaviercorpus dröhnt dazu leise Perkussives, während die Sopranstimme gespenstisch sich emporschwingt. Vielleicht die stärkste der neuen Vertonungen.

Wolfgang Rihm steuerte zwei lyrische Miniaturen der Dichterin Marina Zwetajewa bei, die in ihrer einsilbigen Dichte, der Ausdrucksschroffheit in Klavier (Siegfried Mauser) und Singstimme (Caroline Melzer) als Psychogramme erklingen, hochexpressiv in ihrer gerafften Wucht. Manfred Trojahn hatte sich ebenfalls mit Marina Zwetajewa beschäftigt, dem glühend emotional in Trauer gegossenen Brief an einen toten Mann, Rainer Maria Rilke: „Das Jahr geht mit deinem Tod“. Trojahn lotete den brütenden Aufruhr des Herzens durch obsessiven Extremausdruck aus, als atemlose Grenzerfahrung einer hysterischen Seelenverfassung, wie sie einst in Schönbergs „Erwartung“ explodiert war (Melzer, Mauser). Walter Zimmermann brachte fünf Gesänge nach Michail Lermontov ins Spiel, dargestellt durch Matthias Winckhler und Jan Philip Schulze, sperrig, wie in spröder Befangenheit nach inneren Befindlichkeiten fahndend – Gedankenlyrik, die sich nach dramatischer Entladung sehnt. Zwei Gedichte der russischen Lyrikerin Sinaida Hippius fanden in der Vertonung durch Bernd Redmann, ausgeführt von Sarah Aristidou und dem Komponisten am (teilweise geräuschpräparierten) Klavier, zu artifiziell todessüchtigen Wort-Ton-Gestalten.

Die „Winzigen Lieder“ des russischen Avantgardisten Velimir Chlebnikov hatten es dem Komponisten Gordon Kampe angetan, für den Peter Schöne und Axel Bauni die groteske Verspieltheit dadaistischer Texte auf den Punkt trafen. Der jüngste Komponist der Liederwerkstatt, der Rumäne Alexandru Sima, hatte zwei futuristische Lieder von Vsevolod Nekrasov  und Asya Shneiderman ausgewählt und sie mit Hilfe des präparierten Klaviers (Axel Bauni) und einer zwischen Erstickung und Ausbruch schwebenden Stimmgestaltung (Sarah Aristidou) in eine Hülle der Fremdheit eingesponnen. „Erzählerisch“ konventionell klang in der Vertonung von Franghiz Ali-Zadeh das Gedicht „Leb wohl, vergiss“ auf einen Text Josip Brodskys. Peter Schöne und Jan Philip Schulze rafften dafür ihre ganze dramatische Ausdrucks- und Steigerungsmacht zusammen.

Die vom frühen Revolutionsgeist geprägten Intellektuellen der russischen Lyrik, sie fanden sich in beiden Konzerten der Bad Kissinger Liederwerkstatt ästhetisch sanft oder aber schroff eingebettet in die romantische Liedkunst von Komponisten wie Schubert, Schumann, Fauré und Debussy, Mahler, Tschaikowsky und Rachmaninoff. So blieb umfassend der Ausgangspunkt der Kissinger Liederwerkstatt-Konzerte existentiell – das doppelt lebendige Erlebnis der Interpreten mit den Komponisten von heute sowie ihre darin eingeschlossene Begegnung mit den Komponisten großer lyrischer Vergangenheit.

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