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Klangbilder mit dem Ensemble Nikel in der Centralstation Darmstadt. Foto: Martin Hufner
Klangbilder mit dem Ensemble Nikel in der Centralstation Darmstadt. Foto: Martin Hufner
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Mäandernde Frequenzgänge im Gemischtwarenladen

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Die 47. Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt waren geprägt von der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Ansätze
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„Neue Musik, quo vadis?“ Die einstmals bang gestellte Frage aus postadornitischer Zeit scheint sich angesichts der überaus vital wirkenden 47. Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik in gänzlich – akustisch schwingende – Luft aufgelöst zu haben. Rund 400 Teilnehmer aus gut vierzig Ländern bespielten mit olympischem Eifer siebzehn quer über die Stadt verteilte Bühnen in hochkarätig kuratierten Projekten, Workshops und Lectures. Ensembles, Komponisten und Interpreten sind aber keine Radieschen, Darmstadt mittlerweile jedoch ein marktplatzartiges Win-Win-Geschäftsmodell, in dem die Neue Musik als öffentliches Gut akzeptiert und auch gehandelt wird: Bye, Bye, Elfenbeinturm. Das ist ja erst einmal nichts Schlechtes, solange die Musik gut ist.

Die Unterstützung wird immer breiter dank zahlreicher Stiftungen und auch dem Deutschen Musikrat. Letzterer verlegte die Probenphase seines orchesterstarken, deutsch-polnischen European Workshops unter der gewieften Leitung von Rüdiger Bohn kurzerhand nach Darmstadt und spielte vor vollem Haus, sprich in einer der vielen genutzten Turnhallen. Eine lupenrein pulsierende Aufführung von Gerard Griseys epochalen „Partiels“ war der verdiente künstlerische Mehrwert für alle. Dieser Musikrat-Workshop in Verbindung mit dem nicht minder traditionsreichen Warschauer Herbst ist eine von vielen neuen Initiativen des Musik-rats in Sachen Neue Musik. Der Wettbewerb „Jugend Musiziert“ 2014 hatte darauf sogar einen deutlichen Schwerpunkt. Im Programm „Impulse! Interpreten! Neue Musik!“ konnten Wettbewerber für ihr „Jugend-Musiziert“-Programm Auftragswerke beantragen. Eine Auswahl davon wird im Folgewettbewerb „WESPE“ in Neubrandenburg im Herbst erneut verglichen werden. So muss es weitergehen!

Das von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Jugendensemble Studio Musikfabrik bot in Darmstadt unter der Leitung von Oboist Peter Veale eine äußerst mitreißendes „Will Sound More Again“ von Wolfgang Rihm. Zwanzig mitreißende Minuten aufgeraute Saxophonlinien, sicher kommentierendes Orchesterklavier und subkonturhafter Harfentiefgang heizten  die Luft bis zum Kochen auf. Gemeinsam dann mit dem Ensemble „Chiffren“ aus Schleswig-Holstein und dem ASEAN Contemporary Music Ensemble geriet der Trias György Kurtágs „Double Concerto“ für Klavier, Violoncello und Orchester inklusive Hackbrettern zur kollektiven Glanzleistung unter der Leitung von Johannes Harneit. Dieses ganz unakademische Treffen der Jugendmusikensembles war gewissermaßen ein eigenes gelungenes Festival in den Ferienkursen. Hier konnte der Ausbildungs- und Interpretationsstand eins zu eins miterlebt werden: So muss Nachwuchs!

Manches Ensemble musste sich in Darmstadt dennoch selbst beschenken: Vier ausgewählte Formationen erhielten die Kurse gratis, bestritten im Gegenzug aber auch einige Konzerte gratis, Unterkunft wurde selbst bezahlt: Trio Catch aus Hamburg, Ensemble Garage aus Köln, Soundinitiative aus Paris und das englische Ensemble Distractfold konnten über die zwei Wochen verteilt mehrfach beklatscht werden. Das Ensemble Distractfold erhielt schließlich einen der zwei begehrten Kranichsteiner Musikpreise. Den anderen bekam die amerikanische Komponistin und Harvard-Absolventin Ashley Fure, Jahrgang 1982 und 2012 bereits mit dem Kranichsteiner Stipendienpreis ausgezeichnet, für ihr Ensemblewerk „something to hunt“. Das Trio Catch (Cello, Klavier, Klarinette) wird bald dank der European Concert Hall Organisation durch Europa touren, steht ohnehin mit einem Bein auch im klassischen Repertoire. Mit ihrer so wunderbar ausgehörten Intonation von Morton Feldmans komplett stromlos, non-digital und ohne zappelndes Video­beiwerk auskommende Musik war plötzlich eine Art Darmstädter Dream-Time in der Orangerie fühlbar, gepaart mit reichlich Metier-Melancholie, greifbare Stille, die einst in Darmstadt hoch im Kurs war. Jetzt gilt sie eher als Sendepause. O tempora, o mores.

In toto reichte das stilistische Spektrum vom auskomponierten Blondinenwitz im Projekt Musiktheater, reiner Akusmatik, über die multimediale Performace im öffentlichen Raum, dem Meeting der zahlreichen Schon-Profi- sowie Noch-Jugendensembles bis hin zum kammermusikalischen Cello-Solowerk alter Kratz-Schule und den Klangskulpturen des Grazer Instituts für elektronische Musik. Vito Zuraj hat gerade einen Lauf, würden Spieler sagen. „Matrix“ für Disklavier und Elektronik, ein vierteltönig schwankendes Vexierbild, funktioniert nach dem Verursacherprinzip: Der Komponist interpretierte das Werk über seine selbstgebaute Komponiersoftware selbst und machte aus dem Clavier eine reizvolle Art Carrera-Bahn.

Der Silbernacken Helmut Lachenmann stand in seinen Lectures und Konzerten geduldig Rede und Antwort auf viele Fragen – natürlich auch nach denen des Materialstands vor vierzig Jahren. Die Herleitung seiner musique concrète instrumentale bot damals noch viel gesellschaftspolitischen Sprengstoff. Heute ist sie Repertoire und Lachenmann selbst sein rastloser bester Vermittler, unterstützt von Yukiko Sugawara (Klavier) und Yuko Kakuta (Sopran) in der Nietzsche-Vertonung „Got Lost“. Das ästhetisierte, kompositorisch fruchtbar gemachte Intonationsgeräusch ist sein geschichtliches Verdienst. Darmstadt sagte: Danke, Helmut!

Ebenfalls schon altersweise, jedoch noch lange nicht spätwerkelnd: George Aperghis und Brian Ferneyhough, beide begehrte Kompositionsdozenten. Aperghis stand mehrfach auch auf dem Konzertprogramm, Ferneyhough gar nicht. Er ging in der Lehre und Projektbetreung gemeinsam mit Arditti-Cellist Lucas Fels ganz auf. Mark Andre gab neben dem Kompositionsunterricht genaue Einblicke in seine Klangwelt. Mit Geräuschen am Wahrnehmungsrand, immer mit den Instrumentalisten gemeinsam entwickelt, hat er Lachenmann längst schon beerbt und weitergeführt. Auch schon eine Oper mehr als der Meister geschrieben, nämlich zwei. Der Kontrabassklarinettist Theo Nabicht etwa, der das Instrument des verstorbenen Ensemble-Modern-Mitglied Wolfgang Stryi weiterspielt, ist ihm einer von vielen wichtigen Klangpartnern.

Franz Martin Olbrisch zeigte mit seiner Installation „rods and strings“ in der Darmstädter Kunsthalle eine sehr gelungene Symbiose aus Konzert, Installation und Klangobjekt. Fotos der Ferienkurse, Streicher im Raum und Videos von Lectures reflektierten den geschichtlichen Ort und aktualisierten ihn anregend erlebnishaft und auch sinnlich schön – weil es betrachtet und gehört werden möchte, würde Gadamer gesagt haben. Die Grenzen zwischen den Formaten der Präsentation waren ohnehin fließend. Multimedia und Performatives mit mehr oder weniger integrierenden oder klangergänzenden Videos als entweder nur intelligentem Licht oder eigentlichem Geschehens­ort gab es fast täglich. Den Ausflüglern zum Frankfurt Lab bescherte das Ensemble Interface in Jagoda Szmytkas „Limbo Lander“ eine recht kleinteilige, aber sehr gelungene Sprach- und Spielakrobatik, in der nicht nur die Sprache auf ihre Sinnhaftigkeit abgeklopft wurde, sondern Musiktheater, Video, Sound, Instrumentalspiel und schrilles Schauspiel Kagels; Instrumentales Theater hintergründig auf den aktuellen technischen Stand hoben. Als Beispiel für Kooperation taugt die Produktion par excellence: Wien modern, das Karlsruher ZKM, das Archiv Frau und Musik, das Warschauer Institut für Musik und Theater, die Stadt Frankfurt, wieder der Deutsche Musikrat und die Alfred Toepfer Stiftung machten die Produktion mit Darmstädter Aufführung möglich. Angesichts der Fördererliste bekommt man auch ein Bild davon, was im Internationalen Musikins-titut Darmstadt an Arbeit in den kurslosen Jahren geleistet wird, um diese Neue-Musik-Biennale auf die Beine zu stellen. Mit den diesjährigen ist die Belastbarkeitsgrenze allerdings sicher erreicht worden: Weiter, schneller, höher geht nicht mehr.

Johannes Kreidler, ein Till Eulenspiegel der Neuen Musik, bekam 2012 den Kranichsteiner Musikpreis Jetzt war er mit „Audioguide“ als Kessel Buntes der Musik- und Medienrealität mehrstündig vertreten. Im Video fiel er in die aufgemalte Tastatur eines Klaviers und stand wieder auf und ließ sich wieder fallen und stand wieder auf – vielleicht ein schönes Sinnbild für das Leben eines nun nicht mehr jungen Komponisten, dessen Frechheitsbonus und Konzeptdenken jetzt auch in der mittleren Schaffensphase greifen muss.
Vor dem Darmstädter Staatstheater fauchten die Gasbrenner von Fesselballons in der Performance des belgischen Ensembles Nadar, gefördert von der flandrischen Regierung. Die DEGEM (Deutsche Gesellschaft für Elektroakustische Musik) hatte ebenso ihr Zeitfenster bekommen wie das Berliner Ensemble Mosaik mit seiner technisch sehr materialintensiven Erforschung von Hörgewohnheiten und Betrachtungsweisen. Das schwedische Ensemble Curios Chamber Play­ers brachte die akustische Kunst gänzlich nach Darmstadt. Die pittoresk über der Bühne in der Orangerie drapierten tütenartigen Ballone knallten in bester WG-Frühstücksmanier in Hanna Hartmanns installativer Komposition „Shadowbox“. Die Schwedin war Preisträgerin des Karl Sczuka-Preises für akus­tische Spielformen und hatte seinerzeit das Fallgeräusch von Bäumen in schwedischen Wäldern hörbar politisch korrekt ästhetisiert. Dass die Bäume noch schreien würden, bevor sie fielen, fände sie gut, hatte eine Freiburger Zuhörerin bei einer Aufführung dieses Werks vor einigen Jahre angemerkt und meinte damit das schrille Bersten des Stammes der Länge nach.

Ein Scelsi-Wochenende mit dem Klangforum Wien unter der Leitung von Sylvain Cambreling widmete sich dem großen Unbekannten der Neuen Musik durch Auftragswerke über jetzt gefundene Tonbänder. Georg Friedrich Haas ließ sich in „Introduktion und Transsonation“ von Scelsis mäandernden Frequenzgängen zu eigener mikrointervallischer Fragmentform gekonnt inspirieren – Stille war spürbar.

Hoch die künstlerische Tür und das Tor breit auf wurde gleich zu Anfang gemacht. Mit Karlheinz Stockhausens raumgreifender Komposition „Carré“ für vier Orchester und vier Chöre boten das hr-Sinfonieorchester, das Ensemble MusikFabrik und der Konzertchor Darmstadt einen sehr exemplarischen Raumklang und ein Mammut der Neuen Musik. Es war die erst neunte und zehnte Aufführung des 1959/60 entstandenen Werks, denn es wurde nach Erläuterungen des fleißigen und kundigen Musikwissenschaftlers Ulrich Mosch wiederholt.

Wurde denn in Darmstadt vor Ort eigentlich noch komponiert? Wer sich nicht für einen der zahlreichen Projekt-Calls mit einem Konzept oder einer Partitur beworben hatte, dem blieb der immer dichter genutzte Open Space an unterschiedlichen Orten zur Präsentation fremder oder eigener Werke als Interpret oder Komponist. Konzerte zu veranstalten will schließlich auch gelernt sein. Hauptsache, man ist deutlich nachweisbar dabei gewesen, siehe Internet und Homepage. Darmstadt ist immer noch so eine Art Währung in der Neuen Musik, ob mit oder ohne Kranichsteiner Musikpreis oder Stipendium. So muss Materialstand?

Der große ästhetische Diskurs blieb irgendwie im Gleichzeitigen der unterschiedlichen Ansätze aus. Dass man weder die Geige als Relikt belachte noch die Elektronik dämonisierte, ist auch ein Ergebnis. Diese Kurse werden vom logistischen Aufwand schwer zu überbieten sein. Vielleicht fängt man 2016, wenn die Kurse siebzig Jahre alt werden, einfach noch einmal von vorne an: mit der Frage nach dem präformierten musikalischen Material.


 

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