In jüngster Zeit ist es um Pierre Boulez still geworden, er tritt nicht mehr öffentlich in Erscheinung. Doch sein 90. Geburtstag am 26. März bietet Gelegenheit, noch einmal den tiefen Spuren nachzugehen, die dieser unermüdliche Anreger und Beweger im heutigen Musikleben hinterlassen hat.
An Überraschungen hat er es nie fehlen lassen. Nach Jahrzehnten erfolgreicher, immer wieder zu Kontroversen einladender Tätigkeit als Komponist, Dirigent, Theoretiker und graue Eminenz des Musikbetriebs, vollzog er um 2004, den 80. Geburtstag in greifbarer Nähe, eine unerwartete Wende: Er drosselte seine weitgefächerten Aktivitäten und wandte sich mit vollen Kräften der Musikerziehung zu. Ein logischer Schritt, denn Boulez hat es nie bei seiner oft ätzenden Kritik am Betrieb belassen, sondern sie stets mit praktischer Veränderung verbunden. Und nun setzte er dort an, wo die Weichen für die Zukunft gestellt werden: An der Basis, beim Nachwuchs. Wenn heute keine Musiker nachwachsen, die die Musik des 20. Jahrhunderts so normal spielen können wie Beethoven und Brahms, so seine Überlegung, dann bricht die Tradition ab.
Ort des produktiven Neubeginns war das Lucerne Festival. Dessen Leiter Michael Haefliger beauftragte ihn mit der Gründung und Durchführung der Lucerne Festival Academy. Auf dem Programm dieser Ferienkurse standen Komposition, Dirigieren, Analyse und Instrumentalspiel im Ensemble und im Orchester. Rund hundertdreißig junge Musikerinnen und Musiker aus der ganzen Welt treffen sich seither jährlich in Luzern, um Klassiker des 20. Jahrhunderts und neue Werke einzustudieren und aufzuführen. Es begann 2004 mit einem Testlauf. „Ich habe über Erziehung immer dieselben Ideen gehabt: Das muss schnell gehen, nicht brutal, aber sehr hart“, antwortete Boulez damals auf die Frage, wie er denn nun als Pädagoge vorgehen wolle. „Ich finde, wenn man einen Schock hat, dann fängt man an sich zu bewegen. Er soll kurz sein, denn sonst ist es zu ermüdend. Aber ein Schock, der wirksam ist, ist für die Studenten sehr gut.“
Früher hatte er mit seiner Schock-Ästhetik noch den Musikbetrieb in Aufregung versetzt, von der Serienautomatik in „Structures I“ über die nach der Uraufführung zurückgezogene Henri-Michaux-Vertonung „Poésie pour pouvoir“ bis zu seinem viel zitierten Spruch über die Opernhäuser. Nun, im hohen Alter, wandte er sie ins Positive. Doch so ganz aus heiterem Himmel fielen seine pädagogischen Überzeugungen nicht, denn er konnte auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Über den Unterricht, den er noch während des Kriegs bei Olivier Messiaen begonnen hatte, sagte er vor elf Jahren im Interview: „Das war damals der einzige Lehrer am Conservatoire, der provokativ war, und diese Provokation finde ich sehr nötig.“ Und was die Schnelligkeit des Lernens angeht: „Ich persönlich habe in zwei Jahren alles gelernt, was mir ein Lehrer beibringen konnte. Danach habe ich mich selbst erzogen, und mit einundzwanzig war ich fertig.“ In dieser kurzen Frist – um das Kriegsende – entdeckte er die Musik der Wiener Schule, Messiaens und Strawinskys, von deren Existenz er noch mit siebzehn kaum etwas geahnt hatte, wie er in den Gesprächen mit Célestin Deliège bekennt.
Der Pierre Boulez beim Unterrichten in Luzern war ein anderer als derjenige im Paris und Darmstadt der fünfziger und sechziger Jahre, der mit kalter intellektueller Präzision seine vernichtenden Urteile über Kollegen und Kulturbetrieb fällte. Der Luzerner Boulez führte mit den Studierenden einen Diskurs auf Augenhöhe.
Eine kollegiale Zusammenarbeit, ohne Besserwissen und ohne Unterwerfung. Er teilte sein Wissen freigebig mit den Jungen und spornte sie zur Eigeninitiative an. Das „artisanat furieux“, das furiose Handwerk, das er im „Marteau sans maître“ beschwört, konnte sich in dieser kreativen Werkstatt ungehindert entfalten.
Doch auch hier erwies er sich wieder als unerbittlich fordernder Profi, der Rationalität und praktische Erfahrung stets zusammendachte. „Mit bloßem Instinkt geht es nicht“, monierte er, „damit verliert man nur Zeit und Energie.“ Deshalb verband er die praktische Einstudierungsarbeit mit Analysekursen für die Interpreten. Und beim Dirigieren achtete er auf radikale Zweckgerichtetheit. Sein Grundsatz lautete: „Machen Sie nicht einfach eine Geste. Machen Sie eine Geste, um etwas zu erreichen.“ Und auch von den Instrumentalisten verlangte er: „Man muss eine Geste haben, um etwas zu vermitteln. Wenn man nichts zu vermitteln hat oder nicht genau weiß, was zu vermitteln ist, dann verschwendet man seine Zeit.“
Ein rationales, auf höchsten Arbeitsertrag ausgerichtetes Denken – protestantische Ethik in Reinkultur, wenn auch losgelöst von religiösen Vorgaben. In Fragen der Interpretation und der Organisation ist das ein hoch effizientes Prinzip, wohingegen im Bereich der Komposition der Materialorganisation auch irrationale Aspekte vorgelagert sind.
Auf diesem Feld hat Pierre Boulez denn auch schon lange den Rückzug angetreten, wenn man von einigen Orchesterbearbeitungen der aus der fruchtbaren Zeit um 1945 stammenden Klavier-„Notations“ absieht. Auch als Komponist hat er zweifellos Großes geleistet. Doch im Kurzzeitgedächtnis bleibt er vorerst hauptsächlich als erfolgreicher Macher und einzigartiger Musikerzieher präsent.