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Mit Schaffensdrang und forschender Neugier

Untertitel
Improvisierte und Neue Musik beim Projekt „MuProMandi“ in Köln
Publikationsdatum
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Mit einem rhythmisierten „Guten Morgen“ begrüßt Komponist Thomas Taxus Beck die Kinder aus der 1. und 2. Klasse der Gemeinschaftsgrundschule Manderscheider Platz in Köln.

Nachdem die Schulanfänger im gleichen Ryhthmus geantwortet haben, wiederholt Beck die Begrüßung noch mehrmals: begleitet mit Bodypercussion, in variierten Rhythmen, er spricht einige Silben laut, leise, hoch und tief, stets beantwortet von den Kindern. Anschließend liest Beck eine Geschichte vor, wird dabei aber immer wieder unterbrochen – nämlich wenn die Kinder meinen, dass es etwas zu vertonen oder lautmalerisch umzusetzen gibt. Einige Kinder koordinieren auch bereits selbstständig komplexere Aktionen. Das Resultat ist eine improvisierte und doch aufeinander abgestimmte Hörspielkomposition, in der die Kinder kreativ ihre Ideen und Möglichkeiten einbringen können.

Unterrichtseinheiten wie diese gehören in der Gemeinschaftsgrundschule am Manderscheider Platz in Köln seit Beginn des Projekts „MuProMandi“ zum Alltag. In Kooperation mit der Jazzhausschule Köln entwickeln Künstler und Pädagogen ein Musikprofil mit Schwerpunkt auf der Vermittlung von Neuer Musik. „Die Kinder vom Manderscheider Platz erschließen sich bei ‚MuProMandi‘ einen eigenen Zugang zu Neuer und improvisierter Musik. Sie entwickeln und differenzieren ihre eigenen Maßstäbe im Umgang mit Klang und Form“, erläutert Rainer Linke, Leiter der Offenen Jazz Haus Schule. „Sie nutzen ihre Offenheit, ihren Schaffensdrang und ihre forschende Neugier, um bereits existierende oder selbst produzierte improvisierte, experimentelle und aktuelle Musik positiv zu erleben.“ Das wird nicht nur dadurch erreicht, dass gemeinsame Konzertbesuche und Begegnungen mit Künstlern die Kinder, die Eltern und die Lehrer zur aktiven Auseinandersetzung mit dieser Musik anregen. Neue und improvisierte Musik ist hier in den Stundenplan integriert: Über den regulären Unterricht hinaus gibt es im Schulvormittag wöchentlich eine Musikstunde, in der sich die Kinder aktiv mit improvisierter, experimenteller und aktueller Musik beschäftigen – unterstützt von Profimusikern.

Begonnen hat das Projekt im Frühjahr 2008 mit einer Reihe von Workshops. Inzwischen werden die ersten drei Jahrgänge, ab dem Schuljahr 2010/11 schließlich alle Kinder der dreizügigen Grundschule am Manderscheider Platz in das experimentelle Klassenmusizieren einbezogen. Improvisation steht hierbei nicht nur auf dem Stundenplan, sondern wird auch praktiziert: „Grundlage unserer pädagogischen Arbeit am Manderscheider Platz ist das Experiment“, erklärt Jazzbassist Achim Tang, der bei der Konzeption und als Dozent am Projekt mitwirkt. „Die grundsätzliche Offenheit“, so Tang, „ist ein wesentlicher Teil der Neuen und improvisierten Musik und birgt viele Chancen für die pädagogische Arbeit. Es gibt hier keine harmonischen Gesetze zu befolgen und keine ‚richtigen‘ Tonleitern zu spielen.

Entdecken im Experiment

Die Kinder können für sich herausfinden, welche Klänge für sie zueinander passen, wie sich selbst erfundene musikalische Figuren oder Rhythmen in ein Stück integrieren lassen oder wie man Musik durch das Setzen spontaner Impulse gestalten kann. Es ist kein ‚Malen nach Zahlen‘. Die Kinder müssen nicht bekannte Muster erfüllen. Das Entdecken von Klang und musikalischem Ausdruck im eigenen Experiment steht im Vordergrund.“ Im weiteren Sinne gehe es darum, so Tang, sich in neuen, nichtalltäglichen Zusammenhängen zu erleben, eigene Ideen auzuprobieren und diese in die Gruppe einzubringen. Der Kreativität, der Kommunikation und auch der Interaktion werde so fast automatisch eine besondere Stellung eingeräumt.

Eine ganze Klasse kann dann schon einmal bei der Komposition 15-sekündiger Stücke angetroffen werden. Die Sängerin Anna Lindblom – neben Thomas Taxus Beck und Achim Tang als Dozentin an der Grundschule tätig – berichtet, wie sie mit 25 Kindern aus der 2. Klasse mit Alltagsgegenständen gearbeitet, verschiedene Materialien untersucht und die gefundenen Klänge und Geräusche Gefühlen und Worten zugeordnet hat: „Zuerst erzählte ich den Kindern, dass wir diese Stunde auf Klang-suche gehen.“ Anschließend stellt Lindblom den Kindern die Gegenstände vor: Steine, Papier, Plastikfolie, Holz, Metall, Eierschneider, eine Wasserflasche und anderes. Anfangs dürfen sie noch sehen, was auf dem Tisch liegt. Später schließen sie die Augen und konzentrieren sich ganz auf das Hören. Sie versuchen, die Gegenstände am Klang wiederzuerkennen, während Lindblom unterschiedliche Klangmöglichkeiten und Dynamiken vorstellt. Diese Vorarbeit führen die Kinder dann eigenständig fort.

Die Musiker vermitteln auch die Grundtechniken der Musiknotation, wie Lindblom berichtet: „Wir suchen gemeinsam nach Methoden, Ton, Klang und Geräusch grafisch dazustellen, um einen einmal abgesprochenen Ablauf reproduzieren zu können und jedem Geräusch ein Zeichen zuzuordnen. Sehr interessante und fantasievolle Zeichen“, wie Lindblom betont. Hier werden nicht nur Klänge erzeugt. Die Kinder komponieren: Sie halten Stücke fest und können sie später reproduzieren. So entwickeln sie ihre Wahrnehmungs- und Hörfähigkeit und üben das differenzierte Sprechen über Musik.

Magische Momente

Die Wiederholbarkeit der Ergebnisse ist wichtig, weil auch die Aufführung der Ergebnisse grundlegender Bestandteil des Projektes ist. Das kann so aussehen, dass professionelle Musiker die Kompositionen der Kinder aufführen. Thomas Taxus Beck erinnert sich, wie begeistert die Kinder waren, als die Profimusiker bei einem Konzert ihre Stücke spielten: „Lindblom und Tang hatten vier Stücke der Kinder geprobt. Die Kompositionen reichten von strukturell präzisen wellenartigen Strukturen über genaueste Angaben zu Dynamik und Tempo bis hin zu fantasievollen ‚Zwiegesprächen zwischen Stimme und Kontrabass‘.“ Die Kinder vom Manderscheider Platz bringen aber auch selbst regelmäßig ihre Werke auf die Bühne. Bei MuProMandi erwerben sie somit Kompetenzen im Bereich der Bühnenpräsenz und Performance. Anna Lindblom berichtet, wie sie hierfür mit einer Klasse „Magische Momente“ erkundete: „Die Kinder hatten sofort Ideen, was das sein könnte, ein magischer Moment. Zum Beispiel: Die Spannung im Bauch, wenn ein Theaterstück anfängt und es im Saal dunkel wird. Wir haben besprochen, wie wir diesen ‚Magischen Moment‘ in unserer Vorführung auch ohne Dunkelheit hinbekommen können. Von den Kindern kam sofort der Vorschlag: Durch Stille!“

Der nächste Auftritt zeichnet sich schon ab: „Die 4. Klassen erfinden im kommenden Frühjahr ein musikalisches Bühnenstück unter dem Titel ‚Zauberwald‘“, erzählt Thomas Gläßer von der Offenen Jazz Haus Schule. Unterstützt werden sie diesmal unter anderem von der Geigerin Gunda Gottschalk und der Pina-Bausch-Tänzerin Chrystel Guillebeaud.

Eine Besonderheit ist bei MuProMandi auch, wie eng Künstler über einen längeren Zeitraum in die Schule integriert sind: Beim Klassenmuszieren am Vormittag sieht man die regulären Lehrerinnen mit den Künstlern der Offenen Jazz Haus Schule bei Konzeption und Durchführung des Unterrichtes eng kooperieren – eine besondere Herausforderung, aber auch Chance für beide Seiten. „Durch dieses Teamteaching entsteht ein ständiger Austausch, ein Kompetenztransfer, der für alle sehr befruchtend ist“, meint Achim Tang. Gerade die Künstler sahen sich bei der Arbeit mit Schulanfängern vor eine große Aufgabe gestellt. Nur in Kooperation konnten einige Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Projektes bewältigt werden. „Ich wollte meinen Unterricht ausdrücklich nicht hierarchisch gestalten“, erinnert sich Tang: „Es sollte keine Kategorien wie falsch und richtig geben, sondern möglichst gleichberechtigtes Arbeiten – mit den Worten von John Cage: I welcome what happens next”. Bald zeigten sich jedoch Probleme. „Die Kinder brauchen zum Erlernen neuer Zusammenhänge klare und abgegrenzte Strukturen, in denen sie sich bewegen und kreativ werden können“, analysiert Tang. „Dieser zumindest scheinbare Widerspruch musste und muss in der täglichen Unterrichtsarbeit immer wieder von Neuem aufgelöst werden.“

Mit ihrer pädagogischen Ausbildung und Erfahrung waren hier die beteiligten Lehrerinnen unterstützend tätig. Aber nicht nur die Künstler profitierten von der Zusammenarbeit. „Die Zusammenarbeit von Künstlern und Pädagogen in der Klasse sowie das gemeinsame Vor- und Nachbereiten des Unterrichts bringen für alle Beteiligten einen Kompetenzzuwachs mit sich und führen zu einer nachhaltigen Veränderung des gesamten Schulklimas“, wie die Rektorin der Schule, Elisabeth Schuhenn, betont. Das Projektkonzept überlässt das Gelingen der so wichtigen Zusammenarbeit nicht dem Zufall. „Zusammen mit Jürgen Haufer, Fachleiter in der Musiklehrerausbildung am Studienseminar Engelskirchen und Lehrbeauftragter der Uni Köln, treffen sich die Dozenten, Musiklehrerinnen, die Leiter beider Schulen in regelmäßigen Abständen in der Steuergruppe zur konzeptionellen Entwicklung und Evaluation des Projektes“, berichtet Schuhenn.

Das Musikprofil bietet aber insgesamt mehr als eine zusätzliche Musikstunde am Vormittag, wie Rainer Linke erläutert: „Das Klassenmusizieren am Schulvormittag wird über Projektmittel finanziert, die das Förderprogramm ‚Netzwerk Neue Musik‘ bereitstellt. Darüber hinaus gibt es zur Interessen- und Leistungsdifferenzierung eine zweite Säule, nämlich ein umfangreiches Instrumental- und Ensembleangebot, das die Offene Jazz Haus Schule am Nachmittag im Rahmen des Offenen Ganztags und zudem außerschulisch und elternfinanziert anbietet.“ Diese Angebote ziehen auch von Anfang an Improvisation und Klangforschung mit in die pädagogische Arbeit ein.

Das Projekt „MuProMandi“ ist im Rahmen von „ON – Neue Musik Köln“ Teil des von der Kulturstiftung des Bundes geförderten „Netzwerk Neue Musik“, das in 15 Städten Deutschlands 4 Jahre lang Projekte fördert, die sich der Vermittlung Neuer Musik widmen.

Am Manderscheider Platz geht es aber nicht nur um Musik: „Wir nehmen die im Projektkonzept formulierte Zielvorstellung, Kinder über den aktiven Umgang mit Neuer und improvisierter Musik in der Entwicklung ihrer Gesamtpersönlichkeit zu unterstützen, sie in der Entwicklung ihrer sozialen Kompetenzen zu fördern und ihnen einen Zugang zum kulturellen Leben der Stadt zu ermöglichen, sehr ernst“, betont Achim Tang. Aber auch die Musiker selbst profitieren von den Erfahrungen. Rainer Linke ist überzeugt: „Die an der Schule arbeitenden Musiker zeigen in ihrer Doppelfunktion als aktive Künstler und engagierte Pädagogen Möglichkeiten der produktiven Verbindung beider Tätigkeitsfelder auf. Pädagogische Arbeit hat unter Musikern und Musikstudenten noch zu oft ein schwaches Image. Dem wirken die am Manderscheider Platz aktiven Musiker als positive Vorbilder entgegen.“

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