Manchmal müssen Dinge wiederholt gesagt werden, auch wenn sie selbstverständlich erscheinen. „Mit Musikerziehung“, so der in München lehrende Musikwissenschaftler Christian Lehmann, „werden Fähigkeiten ausgebildet, die ebenso zum Wesen, zur ‚Grundausstattung‘ des Menschen gehören wie Bewegung, Sprachkompetenz und logisches Denken.“
Wer wollte dem widersprechen? Trotzdem ist es wohl immer wieder nötig, auf derartige Sachverhalte hinzuweisen und ihre Relevanz für Bildung und Erziehung einzuklagen. Denn während mit höchstem politischen Segen die möglichste Vernetzung der Kinder bis hinunter zur Grundschule abläuft, werden zugleich die musischen Fächer mehr und mehr abgebaut, weil deren „Nutzen“, wie es scheint, nicht unmittelbar auf der Hand liegt.
Das Buch von Christian Lehmann ist geeignet, dem „Bauchgefühl“ von Musikfreunden die erforderliche rationale Argumentation an die Hand zu geben. Der Autor ist Musikwissenschaftler und Biologe; er war Stimmbildner bei den Regensburger Domspatzen und hat selbst in bekannten Chören mitgesungen. Sein Wissen aus Biologie und Neurowissenschaften bringt er ein, um überzeugend zu zeigen: Musik ist nicht – zumindest nicht nur – Teil der menschlichen Kultur, sondern gehört zur „menschlichen Natur“ selbst. Wenn wir Musik ausüben, so ist das weniger eine kulturelle Errungenschaft, sondern Teil der menschlichen Biologie.
Der Autor nennt dafür die wohl wichtigsten drei Eigenschaften des Menschen: zum ersten, dass der Mensch seit Urzeiten singen kann. Sprache und Gesang haben eine Wurzel und gehören unmittelbar zusammen. Zweitens, dass der Mensch aus der Bewegung fast zwangsläufig zum Tanz gekommen ist (früheste Anlässe waren wohl kultische Handlungen). Drittens schließlich, dass dem Menschen der Rhythmus an- und eingeboren ist, was sich im Klopfen, Klatschen und Schlagen – wir erleben es ständig bei großen kulturellen oder sportlichen Veranstaltungen – manifestiert. Daraus folgt: Jeder Mensch hat ein relatives Gehör, das ihn eine einfache Melodie schnell erfassen und einprägen lässt. Unsere rhythmische Veranlagung befähigt uns, rasch in einen gemeinsamen Takt zu fallen (Radetzkymarsch beim Wiener Neujahrskonzert!), und es gelingt uns ebenso rasch, Stimme und Bewegung zu synchronisieren. Wir müssen das nicht lernen, „es liegt in unserer Natur“.
Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt, soziales Verhalten durch Musik zu erklären und mit Musik zu beeinflussen. Musik fördert den sozialen Zusammenhalt und festigt Gemeinschaftsgefühl. Das beginnt mit der in allen Kulturen zu beobachtenden Fürsorge der Mütter, die ihre Kinder in den Schlaf singen. In jüngster Zeit sind aus der Erkenntnis der sozialen Funktion von Musik längst sehr viel praktischere Schlüsse gezogen worden. Vermehrt setzen Krankenhäuser Musik zur Beruhigung von schwerkranken Patienten und zur Bewältigung von Ängsten und Depressionen ein. Aus Kliniken und sozialen Einrichtungen ist heute Musiktherapie nicht mehr wegzudenken. Der Autor warnt davor, dass die dem Menschen innewohnenden musikalischen Fähigkeiten immer mehr verkümmern, weil er nicht mehr selbst musikalisch aktiv ist, sondern nur noch als Hörer über Tonträger an Musik teilnimmt. Der Erziehung fällt eine Schlüsselrolle zu: „Musikerziehung einzusparen wäre ein riskantes Spiel mit der Zukunft unserer Kultur. Musik schafft Identität. Sie ist nicht nur als Heilmittel im medizinischen Sinne zu verstehen, sondern vor allem als Heilmittel gegen die Entfremdung des Menschen von sich selbst.“
Man möchte es in alle Ministerien und Schulämter hineintrompeten!