Wien, XIX., Lannerstrasse 9 – irgendwann um das Jahr 1910 fotografiert Hubert Joachim Adler seinen Vater. Umgeben von seinen Büchern sehen wir Guido Adler in einer für ihn überaus charakteristischen Körperhaltung. Ein Gelehrter, dem das Moment der Versenkung auf die Stirn geschrieben ist. Guido Adler in seiner Bibliothek, gebeugt über Skripte, Korrespondenz, Noten. Der Wissenschaftsernst ins Bild gesetzt. So kannten, so schätzen ihn Schüler, Kollegen, nicht zuletzt die Familie, Ehefrau Betty Berger, eine Wienerin, die er 1887 „nach bürgerlichen Gesetzen und israelitischen Gebräuchen” heiratet, dazu die beiden Kinder Hubert und Melanie.
Erklären und Bestimmen von Werken der Tonkunst ist für den Gründer des Musikhistorischen Instituts an der Wiener Universität, für den Ordinarius der Musikwissenschaft in entscheidender Umbruchszeit zwischen 1898 und 1927 der ostinate Bass einer breit angelegten Lehr-, Forschungs-, Beratungs- und Publikationstätigkeit. Eine Tätigkeit, die den elfenbeinernen Universitätsturm als Ort des Sich-Versenkens schätzt, ohne sich freilich in ihm zu verbunkern. Vielmehr ist es Weltoffenheit, die Guido Adler in einem sehr prinzipiellen Sinn als Möglichkeitsbedingung geistiger Existenz gilt. „Die größte Gefahr“, schreibt er Mitte der 20er-Jahre in einer unveröffentlichten Skizze zur Lage der modernen Tonkunst, „liegt nicht im Experimentieren, sondern in den Schlagworten, die geprägt werden.“ Es ist das Ethos der Selbstaufklärung Kants, das Adler hier vertritt. Die Freiheit des Entwurfs, will er sagen, darf man sich von niemandem streitig machen lassen – auch nicht von sich selbst, von der eigenen Furcht vor dem Neuen, dem Sich-Gewöhnen an die Gewohnheit, an den Trott. In diesem Bewusstsein betritt Guido Adler seine Bibliothek – nicht, weil er sich dort vergraben will, vielmehr, um auszugraben, um es für die Gegenwart fruchtbar werden zu lassen.
Beispiel Moderne
Anfang der 20er-Jahre projektiert Adler sein großes Handbuch der Musikgeschichte, das 1924 in erster, 1930 in zweiter, erweiterter Auflage erscheinen wird. Der Löwenanteil, in erster Auflage neunhundert von eintausend Seiten, ist darin dem „großen Stoff der musikalischen Entwicklung des Abendlandes“ vorbehalten, verhandelt und ausgebreitet in drei „Stilperioden“, angefangen bei den orientalischen Kulturvölkern über die Gregorianik bis zur Wiener Tanzmusik und Operette.
Hätte er sich an dieser Stelle zum Abbruch seiner Monumentalgeschichte entschlossen – niemand hätte ihm einen Vorwurf gemacht. Denn „nur was dem Interesse der Gegenwart entrückt ist“, ist auch wissenschaftsfähig, dekretiert etwa Philipp Spitta, Adlers Mitherausgeber und Gegenspieler im Projekt „Vierteljahreszeitschrift für Musikwissenschaft“. Der Stoff, aus dem die Wissenschaft geschnitzt ist, muss, so Spitta, „dem Forscher stille halten“. Mit anderen Worten: Untersuchungen nur an totem Gewebe. Was aber, fragt sich Adler, machen wir dann mit der Musik der Gegenwart? Bleibt die Moderne, bleibt, was zwischen Wagner und Schönberg geschah und geschieht, außen vor?
„Objektivität und Gegenwart passen nicht unter einen Hut!“ hätte Spitta dem Kollegen zugerufen. „Ich weiß!“ hätte dieser geantwortet. Es muss trotzdem versucht werden, selbst wenn es heute, Anfang der 20er-Jahre, eine vollkommen offene Frage ist, was die „Moderne seit 1880“ darstellt. Sich der Gegenwart zu stellen, ist Pflicht, auch wenn wir dafür den „streng historischen Boden“ verlassen müssen, damit sich, notgedrungen, „Geschichtsschreibung und Tagesschriftstellerei“ begegnen können. Ein Wissenschafts-Kompromiss. Für einen Wissenschaftsautor wie Guido Adler zweifellos eine große Überwindung. Wie schon für den Hauptteil seines Handbuchs, requiriert er auch für dessen Schlusskapitel „Moderne“ ein Team aus „Vertretern verschiedener Nationen“. Nicht weniger als vierzehn Autoren sollen ihm helfen, ein Bild der Gegenwart, eben jener „Moderne seit 1880“ zu entwerfen, indem sie geschlossene Darstellungen schreiben der Musikentwicklungen in den süd-, mittel- und osteuropäischen Ländern sowie in den Vereinigten Staaten von Amerika. Auch die 1930 notwendig gewordene zweite Auflage transportiert nicht nur dieses „Moderne“-Kapitel weiter mit, sondern präsentiert bemerkenswerte Ergänzungen: Unterkapitel „Belgien, Deutsche und Romanische Schweiz“, erneut den Fachartikel „Musikwissenschaft“ (Wilhelm Fischer), dazu drei weitere Grundsatzbeiträge: Eine komprimierte Interpretationsgeschichte ernster Musik (Paul Nettl), einen Schnelldurchgang „Musiktheorie“ vom Ausgang des 15. Jahrhunderts bis zu Schönberg und zur Zwölftontechnik, die hier Joseph Mathias Hauer zugeschrieben wird (Johannes Wolf) und schließlich sogar einen Aufsatz zur viel geschmähten „Musikkritik“. (Hermann Springer)
Rezeption als Kastration
Keiner dieser Beiträge indes hat die Aufnahme in das 1975 erschienene dtv-Reprint geschafft, das für Adlers Nachkriegsrezeption praktisch die einzige Quelle darstellte. Mit dem etwas altklugen Argument fehlender Gültigkeit und Dauer – was Adler selbst ja durchaus nicht an der Aufnahme der Moderne in seine Musikgeschichte gehindert hat – wird die neuralgische Schnittstelle an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert schlichtweg gestrichen, was für unser Bild von Adlers Musikgeschichts-Verständnis insofern verheerend gewirkt hat, als das Gegenwarts- und Krisenbewusstsein, die Modernität des Herausgebers, dank einer verlegerischen Kastration, mit einem Mal wie vom Erdboden verschluckt erscheint.
Die Taschenbuchversion von Adlers Handbuch der Musikgeschichte spiegelt nun exakt wider, was man immer schon vom Historismus zu wissen glaubte: Geschichte ist das, was vorbei ist. Als ein Geschehenes, ein nicht mehr Wirksames, hat sie nur noch einen einzigen Ort – den zwischen zwei Buchdeckeln, womit die Wissenschafts-Utopie, die Adler noch bei seinen entferntesten Studien umgetrieben hat, ihrerseits ausgetrieben ist. Und doch ist solches Zurechtstutzen nicht der Grund, weshalb Guido Adler dem heutigen Bewusstsein fern gerückt ist.
Paradigmenwechsel
Zu tun hat dies auch mit Adlers Wissenschaftsvermächtnis, das eng mit seiner Stiltheorie verbunden ist, die sich am Studium der klassischen und der alten Musik ausbildet. Etwa an dem der „Trienter Codices“ – 1.500 geistlichen und weltlichen Kompositionen der Renaissance –, die auf seinen Vorschlag von Staats wegen angekauft werden und deren Edition ihn und seine Schüler auf Jahre hinaus beschäftigen und wie vieles andere in die „Denkmäler der Tonkunst in Österreich“ eingehen, die Adler 1893, gemeinsam mit Brahms und Hanslick aus der Taufe hebt.
1911 schließlich erscheint das Buch, das Adler selber sicherlich als sein wichtigstes bezeichnet hätte: „Der Stil in der Musik“, unverändert publiziert in zweiter Auflage 1929. Mehr als ein Gelegenheitswerk, vielmehr ein Programm, glaubt Adler doch, aus der Kompositionsgeschichte „Stilprinzipien“, „Stilarten“ und damit notwendigerweise „Stilkritik“ ableiten zu können, womit er den Kontext einer normativen Ästhetik etabliert, die mit dem Nachkriegs-Paradigmenwechsel zur Werkanalyse außer Kurs gekommen ist.
Lange Schatten
Und doch erklären auch zwei problematische Kapitel Geist- und Rezeptionsgeschichte letztlich nicht, weshalb Guido Adler unserem historischen Gedächtnis abhanden gekommen ist. Wirksam wird vielmehr auch in seinem Fall die nur zu gut bekannte Geschichte politischer Ausgrenzung, die in „Hitlers Wien“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts beginnt, im NS ihren blutigen Höhepunkt hat und als Nachkriegsverstocktheit, als fatale Mischung aus Schuldgefühl, Scham und Ressentiment langen Schatten wirft – bis in die Gegenwart hinein, was ein vor kurzem in Wien ausgetragener Rechtsstreit um ein wiederaufgetauchtes Mahler-Autograph noch einmal deutlich machte.
Gegenstand: Die Partitur des Orchesterliedes „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, die Gustav Mahler 1905 Guido Adler zu dessen 50. Geburtstag zum Geschenk gemacht hatte und die im Frühjahr 2000 völlig überraschend in der Wiener Sotheby’s-Vertretung zur Versteigerung angeboten wurde.
Im darauffolgenden Rechtsstreit kommt es zum Aufeinandertreffen eines Nachfahren der Opfer- und der Tätergeneration. Auf der einen Seite der Erbe jenes Wiener Rechtsanwalts Heiserer, der 1941 kurzzeitig Adlers Tochter Melanie vertreten hat. Auf der anderen der in den Vereinigten Staaten lebende Enkel Guido Adlers, Tom Adler. Dieser bringt ein Argument ins Spiel, dem sich letztlich auch das österreichische Bundesdenkmalamt anschließt. Das Mahler-Manuskript, so Tom Adler, war Teil der Bibliothek seines Vaters, die nach seinem Tod, gegen den Willen der 1942 ermorde-ten Tochter Melanie, erst arisiert, schließlich unter Wiener Kulturinstitutionen aufgeteilt wurde. Insofern ist es ebenso gestohlenes, unterschlagenes Kulturgut wie Bibliothek und Nachlass seines Großvaters, den Hubert Joachim Adler, der Vater Tom Adlers, unmittelbar nach dem Krieg auf Grundlage eines ersten Rückstellungsgesetzes einklagt, zugesprochen bekommt und daraufhin an die University of Georgia gibt.
Dass der Enkel Guido Adlers darin Recht bekommt, vermag freilich nicht über die Verstocktheit eines Nachfahren der Tätergeneration hinwegzutäuschen, der die Erinnerung an solche historischen Prozesse als Zumutung empfindet und in einer Mahler-Partitur, die er im Tresor seines Vaters „findet“, einzig ein Spekulationsobjekt erkennen kann. Kunst ist überflüssig, es sei denn, sie bringt Geld.
Das Ende führt zurück an den Anfang: Guido Adler in seiner Bibliothek. „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“. Das Vergangene ist so lange nicht vergangen als uns noch etwas an ihm beschäftigt, etwas, das uns nicht zur Ruhe kommen lässt, das uns unter Umständen mit dem Gewesensein über Kreuz liegen lässt. Es treibt um. Es ist unausgestanden. Wie am Schicksal dieses Gelehrten jüdischer Herkunft, der sein Leben darauf gegründet hat, dass das josephinische Toleranzversprechen halten möge und in dieser Hoffnung letztlich gescheitert ist. Guido Adlers Geburtstag, der sich am 1. November zum 150. Mal jährte, könnte daran erinnern.