Was war zuerst da? Die Vision eines Komponisten von der Verbindung mehrerer Gamben verschiedener Größe zu einem herrlich tönenden Consort, oder die flämischen Gambisten, die der englische König Heinrich VIII. bei Hofe anstellte? Der Wunsch, zwischen monumental besetzter Symphonik und intimer Kammermusik einen Mittelweg in Form von Werken für kleinere, dabei aber instrumental möglichst differenzierte Gruppen zu gehen, oder die Gründung entsprechend flexibler Ensembles?
Nicht immer ist die Frage nach Henne und Ei so klar zu beantworten wie in diesen beiden Fällen. Zweifellos haben sich aber zusammen mit musikalischen Gattungen immer wieder auch Besetzungen verfestigt, die ihrerseits das Fortschreiben der Gattungen sicherten: mit unerschütterlicher Kontinuität etwa das Streichquartett und das Sinfonieorchester, in jüngerer Zeit Ensembles für zeitgenössische Musik, die nun ihrerseits schon Geschichte geschrieben haben, wie die Geburtstagsporträts der Musikfabrik und des Ensemble Aventure auf den Seiten 4 und 5 zeigen.
Mit der Institutionalisierung der Formationen entstanden also Gefäße, die es immer wieder mit neuen Inhalten zu füllen gilt. Manche Interpreten üben eine solche Faszination aus, dass Komponistinnen und Komponisten von sich aus den Drang verspüren, für sie zu schreiben – mit Kompositionsaufträgen kann der Inspiration aber auch sanft aufgeholfen werden. Das klappt nicht immer, wobei das eingestandene und auskomponierte Scheitern dann bisweilen anregender sein kann als die ordentlich bewältigte Pflichterfüllung.
Künstlerischer Impuls oder künstlicher Arterhalt?
Zu besichtigen ist dieser Effekt auf der DVD-Dokumentation zum Projekt „Sind noch Lieder zu singen?“ (siehe Seite 17), mit dem die Internationale Hugo-Wolf-Akademie sich ganz offen der Frage nach der Arterhaltung der Gattung „Kunstlied“ stellte. Eine Diskussionsrunde, unter anderem mit Carola Bauckholt und Steffen Schleiermacher, hielt dabei nicht mit grundsätzlicher Skepsis hinterm Berg. Dabei sind Unternehmungen wie die langjährige „LiederWerkstatt“ des Kissingers Sommers (siehe Seite 20) nicht zwangsläufig als optimistisches Signal für einen solchen Erhalt zu werten. Denn auch hier könnte der Henne-Ei-Zweifel aufkeimen: Gab es lange Jahre ein solches Festival, weil es so viele Tonsetzer zum Klavierlied hinzog, oder wurde die traditionelle Konstellation Stimme-Klavier vielmehr nur des Festivals wegen bedient? Bei anderen Besetzungen stellt sich diese Frage nicht minder: Interessieren sich wirklich so viele Komponisten für den großen sinfonischen Apparat oder die kleineren Ensemblekonstellationen wie neue Stücke dafür entstehen? Ist die instrumentale Virtuosität und künstlerische Eigenart von Gruppen wie dem Arditti Quartet vielleicht so dominant, dass ihm nur noch „Arditti-Quartette“ auf den Leib komponiert werden?
So lange aus der Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen immer wieder neue kreative Energie erwächst, besteht kein Grund, Trübsal zu blasen. Wenn aber Chancen vertan würden, aus eingefahrenen Mechanismen auszubrechen, wäre das bedauerlich. Diese Gefahr besteht nun beim Start des neuen „SWR Symphonieorchesters“, das – aus der skandalösen Fusion von Radio-Sinfoniorchester Stuttgart und SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg entstanden – im Herbst seine erste Saison antritt.
Kreative Chancen im Südwesten?
Wie Georg Rudiger auf Seite 21 schildert, handelt es sich dabei um einen momentan 175 Frau und Mann starken Klangkörper, der je nach Dienstplan in unterschiedlichen Zusammensetzungen seine Konzerte absolvieren wird. Die Programme sind dabei – abgesehen von den Auftritten in Donaueschingen, im Rahmen der „SWR Jetztmusik“ und bei auswärtigen Festivals – von überschaubarer Zukunftsgewandtheit. Die mitunter eingestreuten Werke Kaija Saariahos wirken eher wie Feigenblätter denn wie ein Aufbruchssignal.
Dabei wären, eine gewisse Flexibilität auf allen Seiten vorausgesetzt, ganz andere Szenarien vorstellbar: Wie wäre es zum Beispiel, wenn den Musikerinnen und Musikern der Freiraum gegeben würde, sich zu Formationen ihrer Wahl zusammenzufinden und Kompositionsaufträge zu vergeben? Oder wenn man einer/einem Composer in residence die Möglichkeit eröffnete, sich die Besetzung herauszupicken, für die sie/er gerne schreiben würde? Für ein 25-köpfiges Bratschen-Consort etwa, oder für elf Hörner, zwei Harfen und Schlagwerk … Dass die SWR-Sprecherin „Möglichkeiten“ in dieser „Übergangszeit“ andeutet, macht Hoffnung, in der kommenden Spielzeit ist davon jedoch kaum etwas zu erkennen.
Auch für ganz neue Formen der Musikvermittlung gäbe es möglicherweise Potenzial, wenn man bedenkt, welche Impulse in dieser Richtung oft aus den Orchestern selbst erwachsen und dann mit großem Enthusiasmus verfolgt werden.
„Consort of Viols“ nannte man in England die beliebten Gambenensembles, für die zahllose wunderbare Werke von William Byrd bis Henry Purcell entstanden, darunter viele so genannte „In Nomine“-Kompositionen. Mit „Broken Consort“ waren hingegen gemischte Besetzungen mit Bläsern gemeint. Auf diese Tradition berief sich das Ensemble Recherche mit dem „Witten In Nomine Broken Consort Book“, das sich seit Ende des letzten Jahrtausends immer weiter mit beauftragten Werken füllte. Vielleicht vermögen ja zwei zerbrochene Orchester eine ähnliche Kreativität zu entfesseln.