Die Musikgeschichte geht keineswegs immer gerade Wege. Warum zu Lebzeiten ein Komponist mehr, der andere weniger Öffentlichkeit hat, hängt mit Dingen zusammen, die wenig mit der Musik selbst zu tun haben. Luciano Berio hatte Öffentlichkeit, gleichwohl war es nicht unbedingt die der musikalischen Avantgarde. Er ging einen anderen Weg, beharrlich, nachdrücklich, musikalisch höchst relevant. Bis zu seinem Tode. Der Nachruf sucht diesen Weg nachzuzeichnen.
Wenn man in den vergangenen Jahrzehnten über die europäische musikalische Avantgarde sprach, die ab den 50er-Jahren kühn in die Zukunft aufbrach und dabei immer wieder auf massive Widerstände stieß, dann wurde er immer erst in zweiter Reihe genannt. Schnell fielen Namen wie Stockhausen, Boulez, Nono, auch Ligeti und Lutoslawski. Und dann, nach einem Moment des Zauderns, fielen Sätze wie: Ach ja, da gibt es auch noch Luciano Berio. Schon bald, als sich die Protagonisten des musikalischen Fortschritts in Orten wie Darmstadt oder Donaueschingen häuslich niedergelassen hatten, wurde diese Hierarchie erstellt und festgeschrieben. Berio hatte schon damals allzu oft die selbstverordneten Reinheitsgebote Neuer Musik verletzt, da konnte auch seine weithin anerkannte, musikalisch wuchernde Fantasie nicht dagegen ankommen. Und Berio verteidigte seine Position: Nicht etwa nach unten gegen nachdrängende Jüngere, sondern gerade eben nach oben.
Im Rückblick freilich wirkt manches anders. Immer wieder scheint es so, als habe der Igel Berio oft sein „Bin schon da!“ rufen können, als der erschöpfte Hase der Avantgarde wieder einmal das Ende der Ackerfurche erreichte. Seine „Sinfonia“ von 1968/69 etwa, bis heute eine der populärsten Kompositionen Berios (und populär darf hier wörtlich genommen werden), traf wie kein anderes Werk aus dem klassischen Sektor den Zeitgeist der 68er Generation. Und das lag durchaus nicht an dem Martin Luther King gewidmeten zweiten Satz dieser grandios frischen, zwischen Lévi-Strauss, Joyce, Beckett und revolutionären Mauersprüchen herumspringenden Komposition. Diese Deckungsgleichheit zum Feeling schafften damals nicht der Kommunist Luigi Nono, der allzu direkt und O-Ton-artig die Laute und Geräusche von Demonstrationen in seine Arbeiten integrierte, auch nicht der zeitweilige Kommunist Henze mit seinem pathetisch beschworenen Freiheitsbegriff. Nein, Berio hatte im collageartigen Gespinst dieses Werks die Atmosphäre des Ungestümen, des lustvoll sich Überschlagenden geschaffen. In der im dritten Satz kongenialen Verbrüderung mit Mahlers Scherzo (aus dessen zweiter Sinfonie), das von Berio als vorantreibendes Transportmittel hin zum utopischen Jetzt verschraubt wurde, stürzten Hoffnung und Angst unter dem Primat aktiven Handelns zusammen. Manch einer sieht in dieser sich ins Tradierte zurücklehnenden Schau in die Zukunft die initiale Zündung für ein postmodernistisches Bewusstsein auf dem Gebiete der Musik.
Und als die in den 80er Jahren etwas stiller gewordenen Protagonisten Kategorien des Lauschens, des hörenden Vernehmens für sich entdeckten, war es wiederum Berio (zusammen mit dem Schriftsteller Italo Calvino), der bei den Salzburger Festspielen mit seiner als „Musikalische Handlung“ apostrophierten Oper „Un Re in ascolto“ (es ist ein Wirbelspiel, eine Windhose in der Umgebung von Shakespeares „Sturm“) das Thema des Hörens oder besser des Horchens zum Gegenstand eines abendfüllenden Werkes machte – in etwa zeitgleich zu Luigi Nonos Tragödie des Hörens „Prometeo“. Dass Berio schon ab Ende der 50er- Jahre mit seinen in den weiteren Jahrzehnten auf gut ein Duzend Werke angewachsenen „Sequenza“-Reihe technisch höchst artifizielle Solo-Etüden vorlegte, fügt sich nahtlos in die Beispiele erfühlten oder wissenden Vorandenkens von Berio – denn wie soll Neue Musik gespielt werden, wenn die einzelnen Interpreten von den Komponisten allein gelassen werden?
1950 hatte Luciano Berio, der 1925 in Oneglia/Imperia geboren wurde, die Sängerin Cathy Berberian geheiratet. Die Ehe hatte bis 1964 Bestand und wer Cathy Berberian (sie starb 1983) kennt, der ahnt, dass das eine wild bewegte Zeit gewesen sein muss. Berberian war exaltiert, sprunghaft, lebendig, sie verfügte über mehrere Oktaven Stimmumfang und war in vergleichbarem Umfang offen nach oben und unten in alle musikalischen Stilrichtungen. Sie sang Monteverdi oder Zeitgenossen, bewegte sich souverän in diversen folkloristischen Stimmtechniken und wusste auch Songs von den Beatles einen ganz eigenen Stempel aufzudrücken. Das Ende der Ehe bedeutete keinen Bruch der künstlerischen Zusammenarbeit. Schon 1958 hatte Berio im elektronischen Werk „Thema (Omaggio a Joyce)“ auf die Stimme Berberians zurückgegriffen – es war in einer Zeit eloktroakustischer Experimente, die Berio mit der Gründung des Mailänder „Studio di Fonologia“ 1954 wesentlich mitbestimmt hatte. Später dann aber entdeckte er intensiver die freien Ressourcen der Stimme und die 1964 auf der Basis unterschiedlicher volksmusikalischer Melodien „für Cathy“ geschriebenen „Folksongs“ (1973 für Orchester bearbeitet) wurden wie die „Sinfonia“ weit über die Lager der neuen Musik, ja über die der klassischen Musik hinaus bekannt.
Auch „Sequenza III“ für Stimme (1966) rechnete mit den exorbitanten Möglichkeiten von Berberian. Das Stück ist bis heute Messlatte für jede Frauenstimme, die sich im Zeitgenössischen versuchen will. Spätestens hier war Berio in guter italienischer Tradition zum Komponisten für Gesang, für Belcanto in seiner weitest denkbaren Form avanciert. „Die Stimme“, so merkte Berio an, „vom unverschämtesten Geräusch bis zum vornehmsten Gesang, bedeutet immer etwas, verweist immer auf etwas anderes außerhalb ihrer selbst und schafft eine große Bandbreite an Assoziationen kultureller, musikalischer, alltäglicher, emotioneller, psychologischer Art.“
Eines ist hierfür Voraussetzung: Der Komponist muss zunächst hinhören auf den Menschen – und dies in aller Bescheidenheit und Unvoreingenommenheit gegenüber dem Klingenden: eine raue Stimme, ein derber Fluch, eine geschraubte Äußerung, ein schüchternes Laut-Geben, eine ausgefeilte Koloratur. Hören, Hören, das Hören zwischen den Tönen wurde für Berio immer mehr zur schöpferischen Prämisse. „Die Töne erreichen den Hafen, das Theater, das Ohr, den großen Hafen des Theaters Ohr… Hierher kehren die Töne zurück, die von hier ausgegangen sind in diesem selben Augenblick. Mein lauschendes Ohr empfängt jene Töne bei ihrer Rückkehr anders als bei ihrem Ausgang: es sind die Töne vermehrt um das Hören der Töne. Ich suche etwas, das mir zwischen den Tönen gesagt wird und von dem ich nicht weiß, ob ich’s mit Verlangen erwarten soll oder mit Angst.“, lassen Berio/Calvino den Prospero in „Un Re in ascolto“ ausrufen. Und sie rufen hiermit nichts anderes als die eigenen Geister herbei.
Vielleicht war dies auch eine Eigenart Berios: Er mischte sich nicht ein, er lauschte von draußen. Und mehr und mehr wuchsen beim Horchen neue Interessen hinzu. Nicht nur der Volksmusik galt sein Ohr (nochmals nach den Folksongs besonders schön im Bratschen-Orchesterwerk „Voci“ auf sizilianische Lieder), sondern auch den Hinterlassenschaften, meist den unvollendeten, der klassischen Literatur. Monteverdi, Bach, Brahms, Mahler, Puccini (Berio vollendete die „Turandot“), englische Renaissanceliteratur und vielleicht besonders innig Schubert im Orchesterwerk „Rendering“ wurden zum Gegenstand seines Wirkens.
Bei Schubert etwa waren es die Skizzen zu einer kurz vor dem Tod konzipierten D-Dur-Sinfonie. Nie tat Berio so, diese Aufgabe erfüllten eher kläglich diverse Musikwissenschaftler, als könne er das Unvollendete vollenden. „Rendering“, Berio bezeichnete das Stück als „Liebesbrief an Schubert“, ist freilich eine abgeschlossene, in sich runde Komposition. Aber sie integriert das von Schubert nicht mehr Gedachte so, dass keine Zweifel aufkommen. Berio komponierte gewissermaßen Kitt, sicht- und hörbare Fugen, aus denen wie Fenster die Skizzen von Schubert hervorleuchten. So etwas zu tun verlangt Ehrfurcht und Anstand, es verlangt so genaues Hören, dass es ganz selbstverständlich vom Nicht-Machbaren überzeugt ist und überzeugt. Geschichte, auch das wollte Berio sagen, ist nicht zu reparieren. Was sie verschlungen hat, ist unwiederbringlich verloren. Und dennoch lohnt die Mühe: Denn die Einsicht in die Unvollkommenheit des Daseins wächst hinzu.
„Da ist eine Stimme, verborgen unter den Stimmen, die aufklingt und wieder schwindet… Du, sagt sie, oder ich, sagt sie. Erinn’re dich. Ich erinn’re die Erinnerung, sagt sie, doch ich will die Erinnerung nicht erinnern, die da aufsteigt… Doch vielleicht ist es statt der Erinnerung die Erwartung, der Moment am Ende… mein Ende, das deine… Da ist eine Stimme, die redet von mir, begraben unter den Stimmen in mir, im Horchen… Du stirbst sagt sie. Ich habe Angst.“ Das sind die letzten Worte von Prospero, die letzten Stimmen, die er hört: am Ende von „Un Re in ascolto“.
Am Dienstag, dem 27. Mai 2003, ist der Komponist Luciano Berio nach längerer Krankheit in Rom gestorben. Wieder einer von den großen Alten, und manchmal hat man den Eindruck, als würden heute mehr wegsterben als junge Komponisten von Rang nachwachsen. Berio hätte vielleicht entgegnet: Man muss nur horchen, immer ins Neue hinein.