Die Landschaft der Orchester- und sonstigen Musikinstitutionen ist heute nirgends in der Welt so dicht wie in Deutschland. Der Prozess der Globalisierung schreitet voran, Europas Grenzen werden immer durchlässiger: Engste Zusammenarbeit wird immer selbstverständlicher. Dies betrifft in zunehmendem Maße auch die Länder Osteuropas, die allmählich in das alte Europa hineinwachsen. Das künstlerische Personal unserer Musikinstitutionen wird immer internationaler, da immer mehr Musiker aus der ganzen Welt nach Deutschland kommen, um in dieser einzigartigen Musiklandschaft arbeiten zu können.
Die spannende Frage ist, ob diese weltweit einzigartige Stellung Deutschlands mit seinen vielfältigen Musikinstitutionen und seiner Theaterlandschaft in Zukunft aufrechterhalten wird.
Ich sehe zur Zeit zwei gegenläufige Trends: Der eine stellt die Fortexistenz eines großen Teils der öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen in Frage. Der Staat und die Städte müssen sparen, sie bauen Leistungen ab, und sie fangen dabei bei den so genannten „freiwilligen Leistungen“ an, wozu eben auch Kunst und Kultur gehören. Manchmal hat man derzeit den Eindruck, sie sind die „freiwilligsten“ unter den freiwilligen Leistungen und werden in der Not zuallererst ins Visier genommen.
Man glaubt, sich diese Strukturen auf die Dauer nicht mehr leisten zu können. Das ist natürlich nicht wirklich eine Frage des Könnens, sondern eine des Wollens, das heißt der Gewichtung. Kultur ist in diesem Verständnis entgegen aller Schön-Wetter-Sonntagsreden nicht Lebensmittel, nicht Teil der Identität unserer Gesellschaft, sondern Sahnehäubchen, Luxus – notfalls verzichtbar, wenn man den Gürtel enger schnallen muss.
Es gibt viele Gründe und Argumente, die einer solchen Haltung entgegenzusetzen sind und aus denen heraus es sinnvoll, ja notwendig erscheint, die öffentliche Kulturfinanzierung in Deutschland nicht ab-, sondern eher auszubauen. Nur einen Aspekt will ich hier herausgreifen: Wenn sich dieser negative Trend fort- und durchsetzt, wird Deutschland im globalen Wettbewerb ein wertvolles Alleinstellungsmerkmal verlieren.
Es wird dann auch hierzulande zu einer fast durchgängigen Kommerzialisierung und im Verbund mit der Globalisierung zu einer Nivellierung des gesamten Kulturlebens kommen. Einige wenige, große, museale und repräsentative Funktionen wahrnehmende Leuchttürme werden – koste es, was es wolle – sicherlich immer erhalten bleiben. Aber was jetzt als Spitze aus einem lebendig-vielfältigen Organismus herauswächst, wird dann nur noch eine Hybrid-Kultur sein.
Eine solche Kommerzialisierung wird kein quantitatives Problem sein, aber ein qualitatives. Dies nicht deshalb, weil kommerziell funktionierende Kunst und Kultur per se schlecht wäre, sondern weil die Qualität auch der kommerziellen Kultur maßgeblich abhängt von der Existenz, der Wechselwirkung mit, der Blutzufuhr aus dem von der öffentlichen Hand kommerzfrei ermöglichten Kultur- (und Kulturausbildungs-)Betrieb. Brächen wesentliche Teile der öffentlich finanzierten Kultur weg, so dürfte das binnen kurzem eine Qualitätsspirale nach unten in Gang setzen, die verheerende Auswirkungen auch auf das haben wird, was der Markt an Kunst und Kultur hervorzubringen vermag.
Man könnte sich noch länger in den unterschiedlichsten Facetten ausmalen, wie die Musiklandschaft in Deutschland 2020 aussieht, wenn die öffentliche Hand sich allmählich immer mehr aus der Finanzierung zurückziehen sollte. Ich will das hier nicht tun, weil ich zwar diese Gefahr sehe, aber letztlich nicht daran glaube, dass es so kommen wird.
Es wird sich vielmehr – so hoffe ich zumindest – der andere zur Zeit erkennbare, gegenläufige Trend durchsetzen, und der argumentiert zum Beispiel wie folgt:
Deutschland muss sich im Zeitalter der Globalisierung auf das konzentrieren und das entschieden weiterentwickeln, was wir im weltweiten Vergleich besonders gut können. Das heißt: Wir werden unsere Stellung – auch unsere wirtschaftliche Stellung – in der Welt nur aufrecht erhalten können, wenn wir auf Kreativität, Innovationskraft, Erfindungs- und Ideenreichtum der Menschen setzen. Kreativität und Bildung sind deshalb die Schlüsselthemen, deren optimaler Entwicklung die öffentliche Hand sich widmen muss. An der Notwendigkeit, Staatsaufgaben und -ausgaben zurückzufahren, geht vermutlich kein Weg vorbei. Die Schwerpunkte des Engagements der öffentlichen Hände müssen neu justiert werden.
Aus diesem Blickwinkel erweist sich der von der öffentlichen Hand finanzierte Kunst- und Kulturbetrieb aber einmal mehr eben gerade nicht als Luxus, auf den man in schweren Zeiten verzichten muss, sondern in der Tat als in der Welt einzigartiges Alleinstellungsmerkmal. Kunst und Kultur gehören zu den Voraussetzungen einer zukunftsgerichteten Entwicklung unserer Gesellschaft, weil sie wesentliche Faktoren für Kreativität und Innovationskraft sind. Bildung, Kunst und Kultur sind deshalb Felder, in die um der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft willen investiert werden muss. Wir können es uns gar nicht leisten, gerade diese Felder zu vernachlässigen. Andernfalls könnten die großen Zeiten der historisch gewachsenen europäischen Kulturgesellschaften im globalen Wettbewerb vielleicht allzu bald vorbei sein.
Diese Sichtweise bleibt naturgemäß nicht ohne Auswirkungen auf die herkömmliche Kulturpolitik. Die wichtigste ist, dass für das gesamte System der öffentlich finanzierten Kulturu die kulturelle Bildung und die zahlreichen Interdependenzen zwischen Bildung und Kultur wesentlich an Bedeutung gewinnen.
Ob sich diese Sichtweise politisch in der Bundesrepublik letztendlich durchsetzen wird, weiß ich nicht. Die gegenwärtige Kulturpolitik des Landes Nordrhein-Westfalen geht jedenfalls mit Entschiedenheit in diese Richtung: auch und gerade in schweren Zeiten des Kampfes um eine Haushaltskonsolidierung wird in die scheinbar „nicht rentablen Bereiche Kunst und Kultur“ investiert und der Kulturförderetat verdoppelt. Dabei wird das Thema der kulturellen Bildung in den Mittelpunkt gerückt. Das Thema „Kulturelle Bildung“ hat in der gesamten Republik Hochkonjunktur. Setzt sich dieser Trend tatsächlich durch, so könnte ich mir ein Szenario der Musiklandschaft 2020 in wenigen Stichpunkten wie folgt vorstellen:
- Es wird immer Menschen geben, die Bedürfnis zur Live-Musik haben: sowohl solche, die aktiv Live-Musik machen, als auch solche, die Live-Musik hören. Ein Live-Musikleben wird es also – trotz Internet, Digitalisierung et cetera – immer geben.
- Dies wird – jedenfalls in Nordrhein-Westfalen, aber wie es aussieht vielleicht auch in anderen Bundesländern – massiv verstärkt werden, durch groß angelegte kulturelle Bildungsprojekte wie „Jedem Kind ein Instrument“.
Die Zukunftsvision für 2020 ist: Allen Grundschülern im Lande (pro Jahrgang sind das circa 150.000 Kinder) wird das Angebot gemacht, in den vier Grundschuljahren ein Musikinstrument zu erlernen oder eine Gesangsausbildung oder eine Ausbildung im Tanz zu erhalten und diese Fähigkeiten ab dem dritten Jahr auch im Ensemble zu erproben (und zu genießen). Vielleicht 60 Prozent aller Grundschulkinder machen von diesem Angebot tatsächlich vier Jahre lang Gebrauch. Das heißt 2020 werden in NRW circa 300.000 Grundschulkinder Instrumentalunterricht haben. In nahezu allen Grundschulen gibt es dann mindestens ein Schulorchester. In allen Grundschulen wird außerdem regelmäßig gesungen und dabei ein regelrechtes „Repertoire“ der Schule gepflegt. In der Folge werden in allen weiterführenden Schulen ebenfalls Orchester bestehen. Die Zahl ihrer Schüler, die Instrumentalunterricht haben, wird sich gegenüber den heutigen Zahlen vervielfachen.
- Die Musikschulen werden dementsprechend expandieren, was sehr viele neue Berufschancen für Musikpädagogen mit sich bringt. Die Ausbildungskapazitäten für Musikpädagogen werden wesentlich größer sein müssen als zur Zeit. Gruppen-Instrumentalunterricht wird in der Lehrer-Ausbildung und in der Musikschule eine wesentlich größere Rolle spielen als bisher.
- Nahezu alle Schulen werden 2020 Ganztagsschulen sein. In ihnen werden kulturelle Aktivitäten eine große Rolle spielen. Die Bedeutung der ästhetischen Bildung bzw. der künstlerischen Fähigkeiten in den Schulen und damit in der Gesellschaft insgesamt wird sich wesentlich erhöhen. Diese Entwicklung bringt viele neue Berufschancen für Künstler aller Genres mit sich.
- Die Sinfonieorchester, auch die Opernorchester, werden völlig anders arbeiten: Viel flexibler und vielseitiger, was die Veranstaltungsformen und –orte, aber auch was das Repertoire angeht. Die Vermittlung von kultureller Bildung wird ein zentraler Bestandteil ihrer Arbeit sein. Das wird sogar die internationalen Spitzenorchester allmählich immer mehr erfassen.
- Die institutionalisierten Orchester werden in Ihrer Zahl zurückgehen. Stattdessen wird es noch mehr Projekt bezogen arbeitende Ensembles in freier Trägerschaft geben. Die Zahl der freiberuflichen Musiker wird dementsprechend noch höher sein als es heute schon mit steigender Tendenz der Fall ist.
- Von der öffentlichen Hand wird 2020 wesentlich mehr Geld für Kultur aufgewendet als zur Zeit. Das kommt aber nicht in erster Linie den institutionellen Förderungen als vielmehr den verschiedensten Formen der Projektfinanzierung zugute. Nur diejenigen Musikinstitutionen, die in den kommenden Jahren – neben ihren nach wie vor zentralen künstlerischen Aufgaben – ihre kulturelle Vermittlungsaufgabe erkennen und sich diesbezüglich in ihrer Stadt rechtzeitig aktiv und innovativ unentbehrlich machen, werden 2020 gut aufgestellt sein.
- Die Trennung von U-Musik und E-Musik wird im Jahre 2020 weiter aufgelöst sein. Das zeichnet sich bei den Hörgewohnheiten der jungen Musikliebhaber schon heute ab. Klassische Musik wird in neuen Darbietungsformen und ohne hermetische Abgrenzungen zu anderen Genres der Musik (und zu anderen Künsten) eine starke Stellung im Musikleben haben. Das Publikum wird sehr viel altersgemischter und damit jünger sein als das zur Zeit der Fall ist, obwohl die Zahl der alten Menschen in unserer Gesellschaft stark ansteigt.
- Die klassischen Kulturinstitutionen, insbesondere auch die Konzerthäuser und Orchester, werden die Menschen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen als Publikum entdecken und durch entsprechende Programme und Marketingmaßnahmen für sich gewonnen haben. 2020 wird das Publikum Spiegelbild unserer mulitkulturellen Gesellschaft sein. Soziologen werden in wissenschaftlichen Untersuchungen die Integrationswirkung des Musiklebens feiern.
Manches davon ist sehr optimistisch, das will ich nicht leugnen. Manches ist vielleicht auch mehr Wunsch als Prognose. Aber utopisch ist nichts davon. Das heißt: Es macht Sinn, sich (weiter) dafür einzusetzen, dass es so kommt.
Peter Landmann, Leiter der Kulturabteilung in der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei