Das Bach-Archiv Leipzig ist seit Ende letzten Jahres um einen bemerkenswerten Schatz reicher. Der Bestand an wertvollen Bach-Autographen, handschriftlichen und gedruckten Musikalien sowie Büchern des 16. bis 19. Jahrhunderts wurde durch die Übergabe der einzigartigen privaten Kollektion des New Yorker Musikwissenschaftlers und Sammlers Elias N. Kulukundis – Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Bach-Archiv Leipzig – ergänzt. Die Sammlung Kulukundis umfasst mehr als 1.000 Objekte und steht dem Bach-Archiv als eine auf zehn Jahre befristete Dauerleihgabe zur Verfügung. In diesem Zeitraum steht sie in den Arbeitsräumen unserer Bibliothek auch interessierten Forschern uneingeschränkt zur Verfügung. Um die Zugänglichkeit zu erleichtern, werden derzeit sämtliche Objekte neu katalogisiert und die Daten in den Web-OPAC des Bach-Archivs eingespeist. Mit dem Abschluss dieser Arbeiten ist im Sommer 2011 zu rechnen.
Elias N. Kulukundis (geb. 1933) ist Spross einer griechischen Reedereifamilie mit Sitz in New York und London. Nach dem Studium an der Yale University arbeitete er lange im familiären Unternehmen. Daneben betrieb er in seinen Mußestunden mit leidenschaftlichem Eifer und großer Fachkenntnis seine privaten Forschungen zu Leben und Schaffen der Bach-Söhne, deren Werke ihn seit jeher – und lange bevor die professionelle Musikwissenschaft so recht auf sie aufmerksam wurde – faszinierten. Mit unübertroffener Expertise begann er Anfang der 1960er Jahre, seine Sammlung systematisch aufzubauen. Wie er mitteilt, betrachtet er sie selbst heute noch nicht als abgeschlossen.
Gemäß den Interessen des Eigentümers hat die Sammlung Kulukundis ihren Schwerpunkt auf dem Schaffen der Bach-Söhne und deren musikalischem Umfeld. Vorhanden sind – zum Teil noch unbekannte – Autographe von Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel, Johann Christoph Friedrich und Johann Christian Bach; ergänzt wird dieser Bestand durch Autographe von Wolfgang Amadeus und Leopold Mozart, Carl Friedrich Abel, Niccolò Jommelli und von dem Bach-Enkel Wilhelm Friedrich Ernst Bach. C. P. E., J. C. F. und J. C. Bach sowie Joseph Haydn sind zudem mit eigenhändigen Briefen repräsentiert. In Abschriften des 18. Jahrhunderts sind darüber hinaus zahlreiche andere führende Komponisten der Zeit vertreten, darunter Franz Benda, die Brüder Carl Heinrich und Johann Gottlieb Graun, Johann Philipp Kirnberger, Johann Gottlieb Goldberg und Gottfried August Homilius.
Besonders reich ist der Bestand an Erst- und Frühdrucken der Werke Carl Philipp Emanuel und Johann Christian Bachs. Unter diesen finden sich außerordentlich rare Ausgaben sowie auch Exemplare mit eigenhändigen Widmungen. Ein Unikum sind die mit handschriftlichen Eintragungen übersäten Korrekturfahnen des in Leipzig hergestellten Erstdrucks von C. P. E. Bachs Oratorium „Die Israeliten in der Wüste“; ein eingehendes Studium dieses Objekts dürfte wertvolle Aufschlüsse über die Verfahrensweisen von Satz, Korrektur und Drucklegung von Musikalien zutage fördern.
Angesichts der reichen Bestände fällt es nicht leicht, eine Auswahl der schönsten und wichtigsten Objekte zu treffen. Eine Sensation ist zweifellos die drei stattliche Bände umfassende autographe Partitur von Johann Christian Bachs Oper „Zanaida“. Es handelt sich hier um die erste vollständige Oper, die der damals 28-jährige jüngste Bach-Sohn kurze Zeit nach seiner Ankunft in London komponierte und mit der er seinen Ruhm begründete.
Das Werk erklang erstmals im Mai 1763 und stieß auf enthusiastischen Beifall. Bislang galt die „Zanaida“ allerdings als verschollen; bekannt waren lediglich einige separat überlieferte Arien, die kein zuverlässiges Bild dieser – auch in biographischer Hinsicht – bedeutenden Oper erlaubten. Das seit seiner Premiere vor knapp 250 Jahren nicht mehr gespielte Werk wird im Rahmen des diesjährigen Bachfests Leipzig erstmalig wieder erklingen – die Vorbereitungen für dieses Ereignis laufen bereits auf Hochtouren.
Doch auch sonst wird an Neuentdeckungen kein Mangel bestehen: Von Johann Christian Bach und seinem Londoner Kompagnon Carl Friedrich Abel enthält die Sammlung Kulukundis eine ganze Reihe von unbekannten Gambensonaten, die demnächst erstmals auf CD eingespielt werden sollen. Wilhelm Friedemann Bach ist mit den originalen Aufführungsmaterialien einer lange Jahrzehnte verschollen geglaubten Deutschen Messe und einer prachtvollen Pfingstkantate vertreten. Näherer Untersuchung bedürften zudem die beiden Skizzenblätter Wolfgang Amadeus Mozarts. Carl Philipp Emanuel Bachs Berliner und Hamburger Freundes- und Kollegenkreis erschließt sich aus zwei Stammbüchern mit zahlreichen kennenswerten Eintragungen und liebevoll gestalteten kleinen Aquarellen.
Der Entwurf einer aus der Hand Mozarts stammenden Bläserstimme zu C. P. E. Bachs Oratorium „Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu“ zeigt, wie Mozart dieses Hauptwerk des von ihm hoch verehrten Hamburger Meisters für eine unter seiner Leitung stattfindende Wiener Aufführung im Jahre 1788 einrichtete. Besonders eindrucksvoll sind die etwa 25 eigenhändigen Briefe von Carl Philipp Emanuel Bach. Unter ihnen finden sich wahre Berühmtheiten – etwa die beiden Briefe an den Göttinger Musikgelehrten Johann Nikolaus Forkel mit biographischen Mitteilungen über Johann Sebastian Bach (darunter die Ausführungen über J. S. Bachs Ausbildung in Ohrdruf und Lüneburg und die Mitteilung, dass Bachs Leipziger Wohnung wegen der vielen auswärtigen Besucher „einem Taubenhause“ glich), der Brief an Johann Philipp Kirnberger mit genauen Angaben über das Tempo der Schlussfuge des berühmten „Heilig“ sowie verschiedene geschäftliche Schreiben an den Leipziger Verleger und Musikalienhändler Johann Gottlob Immanuel Breitkopf. Zwei Briefe aus Johann Christian Bachs Mailänder Zeit geben unschätzbare Einblicke in das Netzwerk von Förderern und Gönnern, das sich der noch jugendliche Komponist an seiner ersten Wirkungsstätte aufgebaut hatte.
Forschung und Praxis erhalten durch die Sammlung Kulukundis wertvolles neues Studienmaterial. Es wird vermutlich noch lange dauern, bis sämtliche Schätze gehoben und sämtliche Implikationen durchdacht sind. Das Bach-Museum Leipzig zeigt derzeit in seiner Schatzkammer eine Auswahl der wertvollsten und schönsten Stücke aus der Sammlung Kulukundis.