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Rousseau vor Augen

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Der Bericht eines Teilnehmers der Ligerzer Opernwerkstatt
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Jean-Jacques Rousseau war selten glücklich. Zu den raren Glücksmomenten seines Lebens zählte der Tag, an dem ein wohlhabender Berner ihn einlud, sich auf seinem Gehöft zu erholen, auf der Peters-Insel, mitten im Bieler See. Seit vier Jahren nun erlaubt der Kanton Bern, gemeinsam mit der privaten Stiftung Aarbergerhus und der kleinen Gemeinde Ligerz, einer ausgewählten Schar von jungen (Musik-) Dramatikern einmal im Jahr für wenige Tage, den Träumereien des großen Vordenkers  Rousseau in Sachen Sprache und Musik nachzuhängen.

Zwei junge Theatermacher haben den Weg hierfür geebnet: der Dirigent Titus Engel und der Opernmanager Viktor Schoner. Beide sind Mitte Dreißig und teilen seit ihrer Studienzeit in Berlin das Interesse an dieser hybriden Kunstform. Gemeinsam reisten sie zu Pierre Boulez, um ihm die kesse Frage zu stellen, ob sein in den 60er-Jahren gelegter Sprengsatz an den Fundamenten der Opernhäuser nicht gezündet hätte. Ihre persönliche Antwort darauf gaben die beiden Opernfreunde, indem sie junge Regisseure, Komponisten und Dramaturgen um sich scharten, um neue Ideen für das Musiktheater von morgen zu sammeln – eine Initiative, die bald darauf von der Deutschen Bank übernommen und in eine Stiftung überführt wurde: die Akademie Musiktheater heute.

Die Ligerzer Opernwerkstatt wurde begründet mit dem Ziel, vor allem Autoren miteinander ins Gespräch zu bringen – Komponisten und Schriftsteller. Denn merkwürdigerweise greifen Komponisten heute meist selbst zu Stift und Papier, wenn es sie zur Bühne zieht, die Namen großer Schriftsteller auf den Ankündigungen der Opernhäuser sind seit Hugo von Hofmannsthal selten geworden – konsequent wandte sich die erste Werkstatt der besonderen Textsorte „Libretto“ zu. Aus dem Alltag des Musiktheaterschaffens erwuchs auch die Begegnung mit der „Einflussangst“, 2007 fragten die Organisatoren, warum es dem heutigen Musiktheater meist so schwer fällt, heiter zu sein.

Mit der aktuellen Werkstatt stand das Thema „Textvertonung“ auf der Tagesordnung. In Cartes blanches, so ist es in Ligerz Usus, stellten die Autoren persönliche Standpunkte zur Thematik vor: Eine halbe Stunde für die pointierte These, die meist Diskussionsstoff für Stunden bietet. Schon im Rahmen des Eröffnungskonzertes in der Ligerzer Dorfkirche wurden zwei Tendenzen unter den eingeladenen Komponisten und Schriftstellern deutlich: Das verständliche Wort ist in den aufgeführten Kompositionen die Ausnahme, die „Dekomposition“ von Sprache die Regel. Ganz selbstverständlich verwenden die Tonkünstler Sprache als Material, seien es Briefe von Galileo Galilei, wie im Falle einer Komposition von Valerio Sannicandro oder O-Töne von John Cage, wie im Falle Oliver Schnellers. Andere, wie die Komponistin Elena Mendoza-Lopez weiten den Sprachbegriff aus, wenn sie das gestische Repertoire eines Musikers gleichfalls in ein musikalisches Vokabular einbeziehen. Robin Hoffmann erfindet gleich eine ganz neue Zeichensprache, wenn er in seinem Body-Percussion-Stück „An-Sprache“ jedem Laut eine Geste hinzunotiert. Dies sind in etwa die Pole, zwischen denen die Komponisten sich bewegten: Sprache als bloßer Materialsteinbruch oder Sprache als metaphorisches Absolutum, ein auf Kommunikation angelegtes Zusammenspiel unterschiedlicher Zeichensysteme. Gemeinsam war den geladenen Komponisten auch die Geläufigkeit, mit der sie das „Wie“ ihrer Produkte zu erläutern wussten.

Bei der Frage nach dem „Warum“ fielen die Antworten häufig spärlich aus. Es scheint, als hätte sich ein ursprünglich sprachkritischer Impuls in virtuose Geläufigkeit verwandelt, die es sich erneut lohnen würde, kritisch zu hinterfragen. Anders im Falle der Dramatiker – sie suchen noch, wie Andreas Liebmann in seinem Stück über „explodierende Menschen“, nach einem bühnenreifen Modus der Sprachauflösung. Die intimen Polyphonien der Texte von Marianne Freidig nähern sich der Musik auf dem Wege der Vielstimmigkeit, während Bernhard Studlar mit seinen Sprachspielen in Esperanto den Klang der Sprache freilässt.

Auf der Suche nach „aktuellen künstlerischen Forschungszentren“ jenseits verschlafener Institutionen findet man in Ligerz lebendige Diskussionen, die ein spannendes Panorama zeitgenössischer Positionen bieten. Man muss es dabei als Stärke dieser Werkstatt ansehen, dass sie die Züge einer Klausurtagung mit kleiner Gästeliste trägt.

Über Publikationen werden die Diskussionen anschließend öffentlich zugänglich gemacht, das jährliche Werkstattkonzert wird in der Region mit Interesse verfolgt. Mittelfristig aber sind es die Begegnungen zwischen Komponisten und Schriftstellern, die das Musiktheaterleben bereichern werden. „Preise gibt es in Ligerz nicht zu gewinnen“, betonen die Veranstalter, „aber Lust auf vertrauensvolle Zusammenarbeit.“ Die ist auch nötig – der Weg bis zum Bad im Premierenapplaus ist viel länger als die wenigen Schritte bis zum Bad im Bieler See.

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