Wie bringt man Leben in ein dünn besiedeltes Bergtal, das am Eingang mit einer Schlucht verriegelt ist und nach fünfzehn Kilometern im Niemandsland von Alpweiden und Geröllhalden endet? Natürlich mit Musik. Die Musikerfamilie Demenga praktiziert das alle drei Jahre mit einem Festival, das Werke von Barock bis Moderne in die Dörfer bringt und ein zahlreiches, bunt gemischtes Publikum aus nah und fern anlockt.
Das Val Calanca, so heißt das enge Tal zwischen zwei hohen Gebirgsketten auf der Schweizer Alpensüdseite, ist ein Geheimtipp für Bergwanderer. Der Tourismus hält sich in Grenzen. In den acht Gemeinden, deren größte gerade einmal etwas über zweihundert Einwohner zählt, gibt es ein paar verstreute Gasthöfe, und immer wieder stößt man auf jahrhundertealte Kirchen und Baudenkmäler. Doch die große Attraktion ist die wild-romantische Natur. Und weil es die gratis gibt, läuft hier wirtschaftlich nicht viel. Das größte Unternehmen im Tal ist ein Steinbruch, in dem der granitharte Gneis abgebaut wird; die meisten der rund sechzig Arbeiter sind Pendler aus dem nahen Italien. Ansonsten: Kleingewerbe, einige Stadtflüchtige und viele halb-bäuerliche Existenzen, eingespannt zwischen der Rest-Landwirtschaft zu Hause und dem Handwerks- oder Angestelltenjob drunten in der Ebene. Die Infrastruktur ist auf staatliche Subventionen angewiesen – Grund für wirtschaftspolitisch einflussreiche Think Tanks, dem Tal das hässliche Etikett „unrentabel“ anzuhängen. Sie möchten es wohl gerne durch ein alpines, gegen Eintrittsgeld zu besichtigendes Disneyland ersetzen.
Damit hätten sie allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht: ohne die Bevölkerung, die trotz Abwanderungstendenzen zäh an der Bewirtschaftung des Tals festhält, und auch ohne die Geschwister Demenga, die sich im Calancatal noch immer etwas heimisch fühlen – einer ihrer Vorfahren ist einst von hier nach Bern ausgewandert. Ihr Kammermusikfestival bildet den Höhepunkt der vielen kleinen lokalen Kulturaktivitäten und öffnet das Tal eine Woche lang dem internationalen Musikleben. Die Talbewohner nehmen es neugierig-gelassen. Sie verweisen darauf, dass sie schon immer weltoffen waren und dass ihre Vorfahren bis nach Holland und Russland auswanderten. Und oft auch zurückkehrten.
Beteiligt an den Kammermusikkonzerten waren diesmal gleich vier Demenga-Geschwister: Annina, die Pianistin und Organisatorin des Festivals, die beiden international bekannten Cellisten-Brüder Patrick und Thomas sowie der Theatermann Frank, der ein Dreipersonenstück zum Thema Künstliche Intelligenz beisteuerte – Science Fiction als harter Kontrast zur Bergwelt. Zu den vielen prominenten Gastmusikern zählten Heinz Holliger in Werken von Mozart, Britten und Boccherini, erfahrene Ensemblespieler wie die Geigerinnen Muriel Cantoreggi und Daria Zappa, die Bratschisten Christoph Schiller und Hariolf Schlichtig.
Die Konzertorte waren über das ganze Tal verstreut: Dorfkirchen, eine Turnhalle, ein Mehrzweckraum. Und die Werkhalle des Steinbruchs von Arvigo. Wo sonst riesige Stahlsägen die Gneisblöcke zerteilen, gaben nun die Cello-Brüder mit dem Schlagzeuger Fritz Hauser, dem Flötisten Matthias Ziegler und dem Steinbildhauer Arthur Schneiter, dessen Klangplastiken sanft zum Klingen gebracht wurden, ein Improvisationskonzert unter dem Motto „Steine“. Von Misstrauen gegen musikalische Experimente bei den Zuhörern keine Spur. Allgemein war der Publikumszuspruch enorm: Fast vierhundert kamen zum festlichen Eröffnungskonzert mit Haydn, Brahms und Schubert in der 1219 erstmals dokumentierten Wallfahrtskirche von Santa Maria. Passend zum Forellenquintett hieß hier das Motto „Wasser“. Und um „Luft“ ging es schließlich in der Kirche des Dörfchens Augio, wo der Akkordeonist Luka Juhart die Zuhörer mit einem Solostück von Hosokawa und mit einer packenden Version von Vinko Globokars „Dialog über Luft“ begeisterte: elementare Musikerlebnisse in einem Tal, wo das Leben seit Urzeiten von den rauhen Elementen der Natur geprägt wird.