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Kai-Uwe Jirka mit zwei Sängern des Staats- und Domchors Berlin bei einer Praxisdemonstration zur Liedbegleitung. Foto: Maren Glockner
Kai-Uwe Jirka mit zwei Sängern des Staats- und Domchors Berlin bei einer Praxisdemonstration zur Liedbegleitung. Foto: Maren Glockner
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Stimmveränderungen im Zeitraffer

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Kinder singen – das Berliner Symposium Kinderchor gab Einblicke in Forschung und Praxis
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Steuererklärungsaktenordner ist wohl das letzte Wort, das Erwachsenen zum Thema Musik einfallen würde. Werner Beidinger dagegen ist nichts zu abgelegen, um sich Rhythmen – im wahrsten Sinne – einzuverleiben. „Steu-er-er-klä-rung, Steu-er-er-klä-rung“: Eine Gruppe von 30 Frauen und Männern steigt mit ihm im Fünfer-Takt ein, arbeitet sich über den Siebener- (Steuererklärungsakte) zum Neuner-Takt (Steuererklärungsaktenordner) vor – per Schnipsen, Patschen, Klatschen, Stampfen. Beidinger, Professor für Elementare Musikpädagogik an der Universität Potsdam, bedauert nichts so sehr wie die Einseitigkeit in deutschen Musiklehrbüchern. Die Quote der Lieder in Dur liegt bei über 80 Prozent, die geraden Taktarten sind die klaren Sieger in der Rhythmus-Disziplin. Wie, fragt er, sollen Kinder musikalische Vielfalt kennenlernen? Er zeigt seinen Studenten, dass es ohne viel Aufwand auch anders geht. Das wichtigste Begleitinstrument ist dabei der eigene Körper. Body Percussion ist das Stichwort, Beidinger nennt es lieber Körperinstrumente.

Kinder singen! Der Ausruf auf dem großen Transparent am prominentesten Gebäude der Fakultät Musik der Universität der Künste (UdK) im Berliner Stadtteil Wilmersdorf ist nicht zu übersehen. Mitte April, unmittelbar vor Beginn des neuen Semesters, haben Kinderchorleiter, Stimmbildner, Stimmphysiologen, Musiklehrer und Kirchenmusiker die Universitätsräume noch weitgehend für sich, um während des fünften Berliner Kinderchor-Symposiums ein Thema zu erforschen, das ihnen am Herzen liegt – dem es deutschlandweit gesehen aber noch an Aufmerksamkeit fehlt. Dass Erwachsene dabei selbst, wie im Workshop mit Werner Beidinger, kindliche Spielfreude an den Tag legen, gehört zum guten Ton der Tagung, bei der es neben Vorträgen, kleineren Konzerten und Probenhospitationen auch um das Ausprobieren geht. Friederike Stahmer, Professorin für Kinderchorleitung in Hannover, beschreitet mit ihren Workshop-Teilnehmern verschiedene Wege zur Mehrstimmigkeit. Die Stimmbildnerin Silke Hähnel-Hasselbach fordert ihre Seminaristen mit Stimmspielen: eben noch Primadonna, jetzt Sumoringer – das braucht einen anderen Klang und eine andere Kraft. 30 Erwachsene erden sich darum mit einem Angriffssprung und einem lauten „Hussa!“-Ruf.

Aufbaustudiengänge, die sich speziell dem Singen mit Kindern widmen, sind an den Musikhochschulen immer noch rar. Renommiert ist das Leipziger Symposium zur Kinder- und Jugendstimme, an dessen Seite sich das Berliner Kolloquium etablieren will. Einst gegründet, um in intimer Runde am Institut für Kirchenmusik Erfahrungen auszutauschen, erreicht das Symposium in seinem fünften Jahr bereits rund 100 Teilnehmer aus Deutschland, Österreich und Liechtenstein. Kai-Uwe Jirka, Direktor des Staats- und Domchores Berlin und Chorleitungsprofessor an der UdK, und seine Kollegin Gudrun Gierszal, auf die das Konzept des Symposiums zurückgeht, planen bereits einen berufsbegleitenden Zertifikatskurs, der im nächsten Jahr starten soll – wie das Symposium unter dem Dach des Berlin Career College der UdK.

Zum Profil des gastgebenden Staats- und Domchores gehört, dass auch jene Sänger Beachtung finden, die vermeintlich die kleinste Lobby haben – sie eröffnen sogar den zweiten Tag des Symposiums mit einem eigenen Kurzkonzert: die Stimmwechsler. „Voces in spe“ heißt die Gruppe, in der die Jugendlichen mit ihren neuen, anderen stimmlichen Möglichkeiten Musik machen. Eine Musik, die einmalig ist, weil die Sänger dieses eigentümliche Rauschen, Ächzen, Schleifen und Knarren nur während des Stimmwechsels auf so natürliche Weise erzeugen können.
Judith Kamphues, Gesangspädagogin des Staats- und Domchores, wollte mehr wissen über dieses einschneidende Stadium in der Entwicklung der Knabenstimme und schickte dafür Raphael Zinser ins Rennen – diesmal nicht als Solisten auf eine der zahlreichen Konzertbühnen Berlins, sondern in die Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie von Tadeus Nawka an der Charité Berlin. Über ein Jahr ließ sich der heute 13-jährige Raphael alle vier bis sechs Wochen untersuchen; die Teilnehmer des Symposiums hören die Veränderungen seiner Stimme im Zeitraffer. Ein Sänger, ein Lied – aber viele Klangfarben, die Raphaels Stimme in der Untersuchungszeit von Februar 2013 bis April dieses Jahres durchlaufen hat. Die Beobachtungen, die Kamphues und Nawka gemacht haben, sind nicht bahnbrechend; das mussten sie auch nicht, weil der Stimmwechsel bei Knabenstimmen ein gut erforschtes Feld ist – besonders wertvoll ist die Fülle und Ausführlichkeit der Untersuchungsergebnisse.

Ann-Christine Mecke vertritt das andere Geschlecht. Die Leipziger Musikwissenschaftlerin will zusammen mit Friederike Stahmer, die den Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin leitet, eine über drei Jahre angelegte Langzeituntersuchung führen, die 2015 beginnen soll und mit der sie dem Geheimnis der Mutation von Mädchenstimmen auf die Spur kommen wollen. Immer noch ist dieses Gebiet kaum wissenschaftlich ergründet, die Lehrbücher widersprechen sich stark. Selbst die Annahme, den Stimmwechsel bei Mädchen unmittelbar mit dem Zeitpunkt der ersten Menstruation in Verbindung zu bringen, konnte bisher weder ernsthaft bestätigt noch widerlegt werden. „Aus medizinischer Sicht verläuft der Stimmwechsel bei den Mädchen nicht auffällig, darum ist dieses Thema wissenschaftlich nicht interessant“, erklärt Ann-Christine Mecke den weißen Fleck in der Forschung. Erste Untersuchungen haben die beiden Frauen bereits geführt. Aus dem Mädchenchor der Sing-Akademie haben sie 38 Mädchen zwischen 8 und 18 Jahren ausgewählt und deren Stimmumfänge verglichen und akustische Analysen anhand eines überschaubaren Liedrepertoires erstellt. Einen plötzlichen Einschnitt in der Entwicklung der Stimme haben sie bei keinem der Mädchen feststellen können. Die Veränderungen verliefen so allmählich, dass ihr genauer Beginn kaum auszumachen sei. Die qualitativen Unterschiede seien aber doch erheblich: Die Sprechstimmlage und tiefste erreichbare Frequenz sinken ab, die Klangfarbe ändert sich zum Teil erheblich und die Vibrato-Fähigkeit entwickelt sich.

Was bei den Mädchen niemand in Frage stellt, will Judith Kamphues für die Jungs unbedingt unterstreichen: „Weitersingen!“ ist ihre erste Empfehlung. Nicht unbedingt bei solistischen Auftritten, weil das frustrierend sein könne, aber in der Gruppe: „Die Jungs können beobachten, was bei den anderen passiert.“ Dazu kann eine individuelle Stimmbildung mit Artikulations-, Atem- und Haltungsübungen dem Sänger helfen, sich an die neue Situation zu gewöhnen. „Man sollte mit der Stimme spielen, sie nur nicht überstrapazieren“, sagt Tadeus Nawka. „Was in dieser Zeit mit der Stimme passiert, ist alles nicht ungesund.“

  • Das sechste Berliner Kinderchor-Symposium findet vom 17. bis 19. April 2015 an der Universität der Künste in Berlin statt.

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