Es ist selten genug geworden in der Szene der zeitgenössischen Musik, dass sogleich der erste Akkord eines großen Orchesterstückes derart „sitzt“, wie jetzt der von „Hohes und tiefes Licht“, einem Doppelkonzert für Violine, Viola und großes Orchester der koreanischen Komponistin Younghi Pagh-Paan. Und damit das Publikum sogleich in einen soghaften Bann zieht, aus dem es 16 Minuten lang nicht mehr entlassen wird und das auch gar nicht will. Mit einem Zitat – „Je höher die Seele zu Gott aufsteigt, umso tiefer steigt sie in sich selbst hinab; die Vereinigung vollzieht sich im Innnersten der Seele, im tiefsten Seelengrund“ von Edith Stein – ist das Stück Edith Stein und Teresa von Ávila gewidmet, zwei Mystikerinnen, deren Leben über 400 Jahre auseinander liegt. Schon lange beschäftigt sich Pagh-Paan vor allem mit der christlichen Mystik, in der sie aber auch eine Parallele zum Buddhismus sieht, der ebenfalls ihre geistige Heimat ist.
Vermeidet die Komponistin schon in den Vorgängerwerken – „In Luce ambulemus“ für Tenor und kleines Orchester (2007) und „Vide, Domine, vide afflictionem nostram“ für großen gemischten Chor (2007) – allzu starke Anklänge an europäische Kirchenmusik, so hat die fließende Heterophonie von „Hohes und tiefes Licht“ noch weniger damit zu tun. Pagh-Paan hat auf ihre Lebenssituation eine neue philosophische und damit stilistische Antwort gegeben. Immer wieder zitierte sie Friedrich Hölderlins Zeilen „Aber das Eigene will so gut gelernt sein wie das Fremde“. Das Eigene und das Fremde erscheint bei ihr doppelt: einmal als eine rein äußere Situation – sie lebt seit vierzig Jahren in Deutschland – und zum zweiten als eine innere Situation: Sie ist katholisch und noch immer ist das Christentum in Korea – erst 1785 in das Land gebracht – fremd in diesem Land. Zudem hat sich Pagh- Paan in ihrer 2002–2006 entstandenen Oper „Mondschatten“ über die Figur der Antigone mit der griechischen Antike auseinandergesetzt.
Für diese geistige Orientierung hat die 1945 geborene Koreanerin, die von 1994 bis 2011 eine Professur für Komposition in Bremen inne hatte, ein bewundertes Vorbild: Olivier Messiaen, auch wenn ihre stille Versenkung so etwas ganz anderes zu sein scheint wie die explosiven und berstenden Preisgesänge des Franzosen. Dass in dem Konzert dessen „Couleurs de la Cité Céleste“ (1963) für Klavier, Bläser und Schlagzeug vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der überragend kompetenten Leitung von Emilio Pomárico mit dem glänzenden Pianisten Roger Muraro gespielt wurde, war der Wunsch der Komponistin. An drei Stellen ihrer Komposition tauchen markante Schlagzeugklänge auf, die sie als Hommage an Messiaen versteht.
Es war bewundernswert, wie das groß besetzte Orchester sich in die Bedingungen dieses „fließenden“ und „suchenden“ Werkes – ein Kompositionsauftrag der Musica Viva – hineinfühlen konnte, in diese geheimnisvolle Heterophonie voller Quintolen und Triolen, voller kräftiger, aber sehr unterschiedlicher Vibrati. In diesem transzendental zu nennenden Klangteppich, der „hoch – tief“ nicht mit Oben und Unten, mit Himmel und Hölle assoziiert, sondern mit beidem als eine Einheit in der Seele. Die berückende Klangwelt endet eher mit einer Frage und darin wirken die beiden Soloinstrumente so ganz anders als das, was man gemeinhin unter „Solo“ versteht. Die Geigerin Melise Mellinger und die Bratschistin Barbara Maurer, beide äußerst erfahren mit Pagh-Paans Musik, müssen nicht virtuos brillieren – obschon ihr Part rein technisch richtig schwer ist – , sondern sie müssen die Brücke, die Verbindung der Orchesterbewegungen bilden und unterstützen. Meistens tun sie das gemeinsam in dieser atmosphärisch dichten Welt voller höchster und tiefster Register.
Auch die pompöse Sinfonie „Sum Fluxae pretium spei“ des 84-jährigen Elliott Carter kreist um das menschliche Leben, explodiert kraftvoll im ersten Satz, mahlert und brucknert kräftig im zweiten und zeigt äußerst gekonnten Orchesterzauber – mit Redundanzen – im letzten Satz. Der Herkulessaal dieses Konzertes der inzwischen fast 60 Jahre alten Reihe „Musica Viva“ war ausverkauft, der Beifall stark: Hier gibt es ein dankbares Publikum für Neue Musik.