Die Leitfrage der Veranstaltung – „Was geschieht, wenn Musik in Musik übersetzt wird?“ – setzt im Grundsatz voraus, dass Musik übersetzt werden kann. Anders formuliert, dass mittels Übersetzung eine zweite Musik entsteht. Das hat Konsequenzen. Ich nenne nur: Die in der traditionellen Übersetzungstheorie gesetzte Hierarchie von Original und abhängiger Übersetzung ist obsolet, und es verschwindet die Einzigartigkeit des Originals, wenn seine Übersetzung als gewissermaßen zweites Original ebenfalls einzigartig sein müsste. Statt Repräsentation des Originals treten in der Übersetzung von Musik Grenzen und Differenzen auf.
Seinerzeit angestoßen von Walter Benjamin, der in der Metapher vom Original als einem Kreis, den die (Übersetzungs-)Tangente nur an einem Punkt berührt und danach ihrem eigenen Weg folgt, radikal die Abkehr vom Übersetzungsverständnis als einer reinen Übermittlung von Bedeutung vertritt, wurde mit der drängenden Frage nach den Beziehungen zwischen den Kulturen die Kategorie der Übersetzung bis weit in die Gesellschaft hinein immer wichtiger. In diesem Kontext entstand das Konzept der „kulturellen Übersetzung“; seit gut zwei Jahrzehnten zählt es zum Kernbestand der Kulturwissenschaft. Gemeint ist mit kultureller Übersetzung ein adäquates theoretisches wie handlungsorientiertes Instrumentarium im Umgang mit den beiden Seiten einer Übersetzung sowie mit dem Vorgang der Übersetzung selbst. Bei Benjamin noch der Berührungspunkt von Kreis und Tangente, öffnete der indische Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha diese Stelle zum „Dritten Raum“, zum Kontaktraum zwischen den Kulturen, zum Raum der Konflikte und Interaktionen, aber auch dem neuer Muster. Der Begriff Hybridität machte von hier aus als geisteswissenschaftliche und als ästhetische Kategorie Karriere. – Greifen diese Denkkategorien im Falle von Musik? Und wenn ja, wie tief? Diesem Problem stellte sich „Labor Sonor“ – seit fünfzehn Jahren als feste Konzertreihe eine maßgebliche Plattform der Berliner Echtzeitmusik und, wie ihr Name sagt, eine Art Forschungsinstanz der Szene. In „Translating music“ kam also die eigene musikalische Praxis von Labor Sonor/Echtzeitmusik auf den Prüfstand. Denn stilistisch angesiedelt zwischen Freier Improvisation, Neuer Musik, Performance und Klangkunst, Elektronica, Noise, Avantgarde-Rock, Trash-Pop und entwickelt in experimentellen Arbeitsformen zwischen Komposition, Improvisation, Konzeption, kommen aus der Echtzeitmusikszene überwiegend Hybride, also schon selbst Resultate kultureller Übersetzungen.
„Labor Sonor: Translating music“ war nun die Realisierung einer gezielten Steuerung von Übersetzungen mit angeschlossener theoretischer Bearbeitung. Unter der künstlerischen Leitung von Andrea Neumann und Christian Kesten sowie Matthias Haenisch als wissenschaftlichem Leiter waren für die „Versuchsanordnung in neun Varianten“ Künstler/-innen und Komponist/-innen unterschiedlicher Genres geladen, um musikalisches Material aus jeweils fremden Genres zu übertragen.
Statements von Musikern und Komponisten im Symposium über ihre Übersetzungs-Arbeit sowie die Berichte von Musikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die Übersetzungen von außen betrachtend über einen längeren Zeitraum hinweg begleiteten, informierten über Kompositionsprozesse, die beiden Panels „vom Übersetzen“ und „Vom Übersetzt-werden“ über Aneignungen und Abgrenzungen. Gelegentlich blitzte „produktives Befremden“ über eine Übersetzung auf – „Ich war erstarrt, wie konkret die Übersetzung geklungen hat.“ In solchen Momenten wurde deutlich, dass der gern zitierte widerspruchsfreie Satz von Paul Ricœur: „Es geht [beim Übersetzen] darum, beim Anderen zu wohnen, um ihn dann als eingeladenen Gast mit nach Hause zu nehmen“, nicht von der besonderen Sorgfalt im Umgang mit dem Anderen, Fremden entbindet. Schließlich oblag dem Symposium die Aufgabe, die kulturwissenschaftliche Erhaltung des Konzepts der kulturellen Übersetzung sowie die Übersetzungsproblematik aus der Perspektive der Echtzeitmusik zu beleuchten. Sehr nahe an den Stücken konzipiert und in den großen Kontext des Themas Übersetzung eingebettet war das Symposium der inhaltliche Kitt des Festivals.
Die klanglichen Ergebnisse der „Versuchsanordnungen“ waren durch zwei Variablen geprägt. Erstens durch die Ausgangsfrage, wer wird – je nach Aufgabe – als „Übersetzer/-in“ eingeladen? Soll eine mehr improvisationsbezogene Herangehensweise aus der Echtzeitmusik in eine mehr kompositionsbasierte Herangehensweise mit fixiertem Notentext übersetzt werden? Oder umgekehrt? Soll elektroakustische Musik in elektroakustische Musik übersetzt werden, Techno durch ein instrumentales Ensemble, ein improvisierendes Soloinstrument in experimentelle elektronische Musik und so weiter? Zweitens bestimmte die Strategie der Übersetzung das Ergebnis: Was soll der Gegenstand einer musikalischen Übersetzung sein? Ein ganzes Werk, ein Ausschnitt, ein winziger Sample, eine Atmosphäre, ein kompositorisches Verfahren oder Stilmittel? Diese Entscheidung oblag jedem für eine Übersetzung eingeladenen Künstler, der/die sich mit dem Original auseinandergesetzt und in die Vorlage vertieft hatte.
In den Paarbildungen, also welchen Künstler/-innen wird welches Material zur Übersetzung anvertraut, hatten die Kurator/-innen ein fast durchwegs glückliches Händchen, wie an den neuen Stücken zu hören ist, mit denen auseinanderzusetzen sich lohnt. (Zu allen Programmdaten, Originalmusiken und beteiligten Künstler/-innen und Wissenschaftler/-innen sei auf www.laborsonor.de verwiesen) Ob aber – außerhalb der Qualitätsfrage – die Stücke immer hart am Thema „Translating“ blieben, ist zu hinterfragen. Denn tatsächlich sind die Grenzen zwischen Übersetzung und den künstlerischen Geflogenheiten, sich bewusst oder unbewusst anregen zu lassen, fließend. Glückwunsch zum Jubiläum, zum Festival und zum hochaktuellen – auch gesellschaftlich brisanten – Thema „kulturelle Übersetzung“.