Die Reichsmusikkammer, ab 1933 die zentrale Standesvertretung aller deutschen Musiker, wird in vielen Veröffentlichungen zum Musikleben im NS-Staat erwähnt. Man weiß, dass Richard Strauss ihr erster Präsident war und der Dirigent und Musikforscher Peter Raabe sein Nachfolger. Aber nur selten wurde diese Institution, deren Archivalien leider in Einzelteile aufgelöst wurde, im Zusammenhang betrachtet. Umso willkommener war die von Albrecht Riethmüller (Berlin) und Michael Custodis (Münster) organisierte Berliner Tagung „Die Reichsmusikkammer. Im Zeichen der Begrenzung von Kunst“. Der merkwürdige Titel erklärt sich aus dem DFG-Sonderforschungsbereich „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“, in dessen Rahmen die Tagung stattfand.
Pläne zu einer Musikkammer hatte es, wie der Wiener Historiker Oliver Rathkolb ausführte, schon vor 1933 gegeben. Die Verwirklichung dieser umfassenden Standesvertretung wurde von vielen Musikern deshalb zunächst begrüßt, zumal die Arbeitslosigkeit groß war und auch „Nicht-Arier“ aufgenommen wurden. Aber die etwa 1.000 „nichtarischen“ Mitglieder wurden ab 1935 ausgeschlossen, und die behauptete Autonomie der Musikkammer erwies sich als bloßer Schein. Deren Befugnisse
schwanden mit der Absetzung von Gustav Havemann und Richard Strauss und der Einrichtung einer Musikabteilung im Propagandaministerium.
Die Musikkammer gehörte zur Reichskulturkammer, die am 15. November 1933 mit einem Festakt feierlich eröffnet wurde. Richard Strauss war so beeindruckt, dass er in Erinnerung an diesen Tag dem Minister Goebbels „verehrungsvoll“ sein Lied „Das Bächlein“ zueignete. Jürgen May vom Strauss-Institut Garmisch enthüllte, dass das vertonte Gedicht nicht wie angegeben von Goethe, sondern von Charlotte Wiedemann stammte. Dabei ließ er offen, ob es sich bei dieser Komposition um eine Huldigung oder um eine ironische Camouflage handelte. Goebbels jedenfalls hat das 1942 uraufgeführte Lied nie erhalten und wohl auch nie gehört. Anders als das Wirken von Strauss, dem sich auch Gerhard Splitt widmete, wurde das von Paul Graener in der Reichsmusikkammer bislang kaum beachtet. Andreas Dormann stellte Graeners Tätigkeit als Leiter des Berufsstandes der Komponisten dar, die trotz der Förderung durch Hans Hinkel nicht zuletzt wegen seiner ständigen Finanzprobleme 1941 endete.
Graeners Nachfolger Werner Egk hat sich nach dem Krieg als Regime-Gegner dargestellt. Dagegen präsentierte Friedrich Geiger ein Schreiben, in dem sich der Komponist 1938 gegenüber dem Schott-Verlag seiner engen Kontakte zu Goebbels und Hitler rühmte. Aufschlussreich war auch ein längeres Gedicht Paul Hindemiths, das Susanne Schaal-Gotthardt, die Leiterin des Frankfurter Hindemith-Instituts, vorstellte. Es datiert von 1935, als der Komponist nach der Entmachtung seiner Fürsprecher Furtwängler und Havemann den anfänglichen Optimismus begrub. Mit bissiger Ironie distanzierte er sich in diesem Gedicht von der „Geflügelzucht“ der Reichsmusikkammer, in welcher der eitle Vogel Strauss die „Gans“ (Hindemith selbst) wie auch den „Adler“ (Furtwängler) in den Hintergrund drängte. Aber erst, als auch Peter Raabes Bemühungen um die Uraufführung seiner Oper „Mathis der Maler“ scheiterten, entschloss sich Hindemith 1938 endgültig zur Flucht aus Deutschland.
Misha Aster wusste kaum Neues über das Verhältnis Wilhelm Furtwänglers zur Reichsmusikkammer zu berichten. Erstaunlicherweise fehlte ein eigenes Referat zu Peter Raabe, dem Kammerpräsidenten von 1935 bis 1945, da dessen Biografin Nina Okrassa nicht eingeladen worden war. Stattdessen würdigte Wilfried Gruhn die ausgleichende Berufungspolitik des preußischen Musikreferenten Leo Kestenberg, referierte Oliver Bordin über propagandistische Dirigentengastspiele und Michael Wittmann über Emil Nikolaus von Reznicek und den Ständigen Rat für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten (fälschlich als „Ständiger Rat für kompositorische Zusammenarbeit“ bezeichnet). Wenn dies auch kaum mit der Musikkammer zusammenhing, war doch Interessantes über die Widerstandstätigkeit Felicitas von Rezniceks, der Tochter des Komponisten, zu erfahren.
Anders als Hindemith schätzten damals die meisten deutschen Musiker die Reichsmusikkammer. Goebbels behielt sie deshalb bei, obwohl er schrittweise ihre Autonomie untergrub. Die eigentliche Steuerung des deutschen Musiklebens übertrug er 1936 der neuen Musikabteilung seines Ministeriums. An ihre Spitze stellte er den Dirigenten Heinz Drewes, dessen Wirken bislang kaum untersucht wurde. Umso grundlegender war das Referat von Martin Thrun. Er hatte aus Gesprächen mit diesem einst so einflussreichen Mann von dessen Bemühungen um Richard Strauss erfahren. Dass Drewes neben Heinz Tiessen auch den bei den Nazis verhassten Gustav Brecher zu seinen Lehrern zählte, hatte er im Dritten Reich wohlweislich verschwiegen. Von Thrun erfuhr man nun, dass dieser diskret im Hintergrund wirkende Funktionär auch die Reichsmusikprüfstelle und die Reichsstelle für Musikbearbeitungen leitete und zudem zwei wichtige Ämter der Musikkammer in seine Abteilung überführt hatte. Mit Kriegsbeginn war damit die weiterhin von Raa-be geleitete Reichsmusikkammer zu einer nur noch leeren Hülle geworden.
Während Goebbels sich 1945 das Leben nahm, Raabe, Graener und Reznicek rechtzeitig starben und Furtwängler, Egk und Drewes entnazifiziert wurden, blieb ausgerechnet Hans Hinkel, einer der mächtigsten Funktionäre der Reichskulturkammer, ungeschoren. Den von Riethmüller, Custodis und Alan E. Steinweis moderierten, angeregten Diskussionen war zu entnehmen, dass Hinkel noch bis 1960 in Göttingen lebte, wo er unter anderem als Vorsitzender des Orchestervereins hervortrat. Sogar der Ort der Tagung, das Clubhaus der Freien Universität Berlin, stand in einem Bezug zum Thema: In dieser schönen Villa am Zehlendorfer Waldsee hatte einmal Friedrich Georg Knöpfke, der erste Direktor der Funk-Stunde Berlin, gelebt. Da er in diesem ersten Hörfunk-Sender Deutschlands auch nach dem 30. Januar 1933 die Meinungsfreiheit verteidigte, wurde er von der Gestapo verhaftet und misshandelt. Am 14. September 1933, zwei Monate vor der feierlichen Eröffnung der Reichskulturkammer, nahm sich Knöpfke das Leben. Dass die Kultur nun der Propaganda diente, hätte dieser mutige Mann nicht gebilligt. Es war damals gefährlich, auf solchen Ansichten zu insistieren.