Auf dem Cover seines ersten Soloalbums schaut Max Raabe sehnsüchtig in die Ferne, wie einst Caspar David Friedrichs ewiger Wanderer über dem Nebelmeer. Ein schönes Bild, das daran erinnert, dass all die jüdischen Komponisten und Texter, die Max Raabe bei seinem Recital „Übers Meer“ versammelt hat, ab 1933 selbst zu Wanderern werden mussten zwischen der alten und neuen Welt.
Ja, Max Raabe ist „erwachsener“ geworden. Längst selbst zum Kosmopoliten geworden – heute New York, morgen Shanghai – singt er heute von der „kleinen Sehnsucht“, die doch durch und durch so deutsch ist wie seine jüdischen „Komplizen“ aus der Vergangenheit, die die Nazis aus dem Land jagten oder vergasen ließen. Nur kongenial begleitet von seinem Pianisten Christoph Israel, schafft es Max Raabe hier tatsächlich, einigen Preziosen aus der Weimarer Zeit neues Leben einzuhauchen. Mit seiner „körperlosen“ Stimme entschlackt er sogar solch abgedroschene Schlager wie Hans Mays „Ein Lied geht um die Welt“, das jeder abgetakelte Provinztenor in seinem Repertoire hat. Einst ist er das „Lied“ des jüdischen Tenors Joseph Schmidt gewesen, der 1942 in einem Schweizer Internierungslager gestorben ist, und jetzt ist er mit einem Schuss Sentiment zu Max Raabes „Lied“ geworden. (Dass in der Presseinfo Schmidts Vorname wieder einmal mit f geschrieben wird, wollen wir hier mit einem Magengrimmen übersehen.)
Die Texte von Walter Reisch, Robert Gilbert oder Fritz Rotter zelebriert Max Raabe mit heiligem Ernst. Plötzlich werden die sehnsüchtigen „lyrics“ dieser melancholischen Lieddichter im Jahre 2010 wieder ernstgenommen. Und das, nachdem sie von so vielen Diseusen und Sängern – auch Max Raabe! – jahrzehntelang nur noch ironisch interpretiert wurden. Rührend ist das, wie Raabe Liedern wie Heymanns „Wenn der Wind weht über das Meer“ oder Grays „Ganz dahinten, wo der Leuchtturm steht“ ihren „Glanz“ zurückgibt. Einen „Glanz“, den sie damals in der Interpretation der Comedian Harmonists und von Hans Albers durchaus besessen haben. Erschienen ist dieses außergewöhnliche Album übrigens bei Decca Records. Eine Firma, die in den 90ern eine vorzügliche „Entartete Musik“-Edition produzierte, die inzwischen von der Mutterfirma Universal leider eingestellt wurde. Gewissermaßen als Fußnote zu dieser Reihe mag man Max Raabes große Hommage an die jüdischen Unterhaltungskomponisten betrachten. Gleichzeitig zu „Übers Meer“ erschien eine DVD mit einem Mitschnitt seines letzten Programms mit dem Palastorchester: „Heute Nacht oder nie“ (SPV Vertrieb).
Auf der Bonus-CD zu dieser Konzert-DVD gibt es das Kontrastprogramm zu Raabes Soloprojekt. Im Vordergrund steht hier der finessenreiche Ballroomsound des Palastorchesters, den der inzwischen verstorbene Günther Gersch geprägt hat. Max Raabe übernimmt hier die Rolle eines vorzüglichen Refrainsängers, der all die Schlager und Chansons von Mischa Spoliansky, Walter Jurmann oder Max Hansen mit einem Augenzwinkern vorträgt. Lieder zum Anbandeln sind das, im Tanz-Rhythmus, charmant, mit einem Schuss Erotik: „War’n Sie schon mal in mich verliebt?“ Lieder, die Max Raabe, der inzwischen wie Ute Lemper zum weltweit bejubelten „Botschafter“ deutscher Songkultur geworden ist, einst auf Schellackplatten und längst vergilbten Notenblättern gefunden hat. Und die Max Raabe 2005 in der Carnegie Hall und bei der Hochzeit vom niedlichen Marilyn Manson und seiner „Burlesque“-Queen Dita von Teese vortragen durfte. „Weimar Culture“ ist weltweit ja inzwischen angesagt, und die Schlager von Friedrich Hollaender, Walter Jurmann oder Kurt Weill spuken dank dieser „Ambassadors of Music“ wieder in der ganzen Welt herum.
Wer hätte das gedacht, in den neunziger Jahren, als einige Liebhaber der alten Songs und Schellackplattensammler in Deutschland begannen, dieses deutsche Musikerbe ins digitale Zeitalter zu retten, und dabei von der Plattenindustrie und Provinzjournalisten müde belächelt wurden?
Doch die Zeiten ändern sich – und leider auch die Sprache. Als „Alleinstellungsmerkmal“ würden Technokraten der Kulturindustrie vermutlich das bezeichnen, was die Essenz ist von Max Raabes perfekter, minimalistischer „Performance“: Lakonie und Grazie. Damals im Berlin der Roaring Twenties gab es diese Mischung im Überfluss.
Ein singender Schauspieler wie Curt Bois war nur einer von vielen jüdischen Künstlern, die das besaßen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass ausgerechnet der Fassbinder-Kameramann Michael Ballhaus „Heute Nacht oder nie“ im Berliner Admiralspalast filmisch verewigt hat. War doch Fassbinder einer der größten Fans dieser alten Lieder gewesen. Fassbinders Respekt vor den alten Meistern war aber so groß gewesen, dass er den alten Friedrich Hollaender, der in Schwabing um die Ecke wohnte, nicht anzusprechen traute.
Von diesem Respekt vor den alten Helden ist auch wieder etwas spürbar bei Max Raabes „Übers Meer“-Projekt.