Als Paavo Järvi zur Fünften bittet, versteht man mit einem Mal auch die verborgenen Dimensionen des Festival-Mottos „Im Licht“. Um die Musiker der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen ein Kordon von Filmkameras; das Orchester getaucht in dramatisches Rotlicht. Hat die „Zukunft des Konzerts – das Konzert der Zukunft“, Titel des Symposiums beim Bonner Beethovenfest, schon begonnen?
Die mediale Verwertungsschleife jedenfalls ist installiert. „Public Viewing“ heißt das Zauberwort, von der Festivaldramaturgie als Dienst am (klassikfernen) Kunden inthronisiert und propagiert. Ein komplettes Regiekonzept regelt die Live-Übertragung des Konzertgeschehens ins Internet, ins Kino, auf den Bonner Marktplatz. Nicht weniger als acht Kameras sorgen dafür, dass keine Geste, keine Schweißperle unbeobachtet bleibt. Zu Füßen des Dirigenten eine Remote-Kamera, fernsteuerbar. Wie von Geisterhand nimmt der Automat während der Aufführung mal Järvi, mal einen Instrumentalisten aufs Korn. Das Pendant dazu pendelt im Bühnenhintergrund. Auf dem Hochsitz eines Transportwagens überwacht ein weiteres Kameraauge das Konzertgeschehen. Ein Kuli ist eigens abgestellt, Dolly von einer Ecke in die andere und wieder zurückzuschieben; eine Art automatisierter Orchester-Scanner. Ob soviel Hin und Her nicht stört bei der Arbeit? Alles eine Frage der Einstellung, lässt Kammerphilharmonie-Geschäftsführer Albert Schmitt wissen. Botschaft: Wir Künstler haben die Sache im Griff!
Aurastifter – Aurakiller
Man möchte es ihnen wünschen. Gemeinsam mit dem Beethovenfest, mit der Deutschen Welle als Medienpartner, verantwortet die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen als dritter im Bunde das schon festivaltraditionelle „Public Viewing“. Gewiss versprechen sich die Bremer darüber neue lukrative Auftrittsmöglichkeiten, was für ein selbständiges Unternehmerorchester mit persönlich haftenden Gesellschaftern tatsächlich (über)lebensnotwendig ist. Und doch: Ob die Musiker wirklich wissen, was sie tun respektive auslösen?
In der Beethovenhalle, soviel steht fest, ist es Kunst. Ein in den letzten Jahren zur absoluten Spitzenklasse aufgestiegenes Ensemble greift in vier Tagen mit dem kompletten Sinfonienzyklus 1–9 nach den Sternen, was schon für sich genommen einer Großtat gleichkommt. Hier wird es Bekenntnis – zu Beethovens Tempi, Beethovens Geist. Virilität, Wagemut, Leidenschaft. Viel hat das Ensemble von der Beat-Hierarchie, der Klangtransparenz historisch informierter Aufführungspraxis. In den besten Momenten wie im Andante cantabile der Ersten, den kammermusikalischen Inseln der Dritten, vermittelt das Spiel der Bremer etwas von der glücklichen Aura, die dieser Musik eingeschrieben ist, die freilich (wie Benjamin wusste) gebunden ist an die Kunst-Ferne – „so nah sie auch sein mag“.
Wer daraufhin (mutig geworden) kurzerhand den Schauplatz wechselt und in lauer Spätsommernacht zum „Public Viewing“ stiefelt, erlebt ein jähes Erwachen. Wie plötzlich einsetzender Platzregen dröhnt Einem, abgestrahlt von mächtigen Boxentürmen hinter einer Großbildleinwand, ein plärrendes Klanggewölk ans Ohr. Jetzt hat auch die Stunde von Dolly und Remote geschlagen. Treu den Konventionen von Klassik im Fernsehen (wo man zumindest noch selber den Volumenregler bedienen konnte) sucht die Bildregie die Kunst in der Herbeiführung von Nähe, findet sie nicht, springt zur nächsten Einstellung, verliert sich im Nirgendwo, im Belanglosen und verquirlt schließlich bei unterlegter Lautsprechermusik Beethovens Neunte zum Bilderfrikassee. Was in der Beethovenhalle Kunst war, wird Kitsch. Der Andacht des Publikums tut dies keinen Abbruch. Hier und jetzt ist man nur zu gern und leichtgläubig bereit, die Dinge zu nehmen, wie sie auf der Packung stehen.
Bloß kein Flächenbrand
Ortswechsel. Beim Symposium „Zukunft des Konzerts – Konzert der Zukunft“ stellt eine Besucherin am Ende eine Frage. Warum die Beethovenhalle, jetzt, wo sie pünktlich zu Festivalbeginn 50 Jahre alt geworden ist, warum ein eingetragenes Baudenkmal, errichtet 1959 von einem Hans Scharoun-Schüler, hier und heute mit keinem Wort erwähnt wird? O Freunde, nicht diese Töne! Eilig gießt Moderatorin Andrea Thilo Löschwasser auf die gar nicht einmal aggressiv vorgetragene Wortmeldung und verkündet Schluss der Debatte. Bloß kein Flächenbrand, der die schöne Symposiums-Dramaturgie verhageln könnte!
Letztere sollte genau zwei Teile haben: Einen ersten, der der Vorstellung der Architekten-Entwürfe zum geplanten „Beethoven Festspielhaus“ vorangeht, wo Themen mit wägendem Kopfe zu bedenken waren: subventionierte versus unternehmerische Orchestermodelle, der Solist zwischen Vermarktungsdiktat und künstlerischer Selbstbestimmtheit sowie der Konzertveranstalter, der neue Freiräume mit alten Gewohnheiten und der Würde der Kunstmusik ausbalancieren muss respektive will. Das alles ist unbestreitbar relevant und interessant zugleich, ging aber über ein Müsste-Könnte-Sollte zu keinem Zeitpunkt hinaus. Motto: Ach, wär das schön, wenn alle Blütenträume aufgingen!
Handfest wurde die Sache erst, als die mit nervendem Überdruck gesegnete Moderatorin zum Symposiumsfinale blies. Mit einem Mal war das Unwägbare, das Nichtausrechenbare des ersten Teils wie weggeblasen, betrat doch siegesgewiss ein Triumvirat von Machern das Podium. In der Mitte mit Hans-Dieter Petram, „Projektleiter Festspielhaus“ bei der Deutschen Post, der Vertreter des großen Geldes. 75 Millionen will sein Unternehmen gemeinsam mit Postbank und Telekom für ein nagelneues Festspielhaus hinlegen. Toll! Die Finalisten des nicht-öffentlich ausgeschriebenen Architekten-Wettbewerbs waren deshalb gleich miteingeladen, um vorzustellen, wie schön die neue Festspielhauswelt werden wird. Zuerst der Abgesandte von „Zaha Hadid Architects“. Im Schweinsgalopp spickt dieser eine Diashow mit einer platitüdenhaften Vertretersprache. Dann lässt „Hermann&Valentini“ ein Werbefilmchen abspielen und damit alle Fragen offen. Folgt nun die Fachdebatte, die kritisch aufgreift, was so durch den Rost gefallen ist? Fehlanzeige. Fragen aus dem Publikum? Ob Handläufe vorgesehen seien? Ja, sind vorgesehen. Na denn, ist ja alles gut. Noch ein schönes Beethovenfest, wünscht die Moderatorin.
Geschenk der Geschichte
Karikatur, Scherz, Ironie? Leider nein – auch wenn es so klingt. Doch tiefere Bedeutung ist dabei, vermeidet es das Beethovenfest doch konsequent, was es als seine Aufgabe begreifen müsste-könnte-sollte. Zu kritisieren ist ja nicht, dass es anstelle der (denkmalgeschützten) Beethovenhalle (gewiss, ein wuchtiger Eingriff) ein neues Festspielhaus errichten will. Was unangenehm aufstößt, ist das Kannitverstan, mit der die Diskussion, die in der Stadt längst im Gange ist, überhört wird. Nachdem im Frühjahr der Antrag der Grünen, einen sogenannten „Ratsbürgerbescheid“ über den Bau eines Festspielhauses durchzuführen, abgelehnt wurde, haben sich in der Folge ganz verschiedene Initiativen „gegen den Bau eines Festspielhauses“ gebildet.
Nur, statt die notwendigerweise kontroverse Diskussion wirklich zu führen, nutzen Oberbürgermeisterin Bärbel Diekmann (SPD) und Kulturstaatssekretär Grosse-Brockhoff (CDU) das Eröffnungskonzert des Beethovenfestes, um rednermonopolistisch für ihr Vorhaben Stimmung zu machen. Einsprüche aus dem Publikum werden nonchalant abgebügelt. Und doch: Am „Tag des Denkmals“ hocken die Abgebügelten bei kühler Witterung zu Füßen eines demnächst (geht es nach Wille und Vorstellung von Politik und Wirtschaft) abzureißenden Denkmals.
Quer durch die Parteien artikuliert sich an improvisierten Debattentischen der Unmut über die selbstherrliche Art, wie ein (so die allgemeine Meinung: unkalkulierbares) Großprojekt durchgezogen werden soll. Doch „katastrophale Haushaltslage, Schuldenlast, soziale Schieflage“ – alles, was von den Bürgerinitiativen angemahnt wird, verblasst dann angeblich vor einem Argument, das Bärbel Diekmann zur Festival-Eröffnungsfeier vorträgt. „Beethoven“, so das von der Oberbürgermeisterin mit Beschwörerton gezogene mächtige Register, „dem größten Geschenk der Geschichte an unsere Stadt sind wir es schuldig, ein Festspielhaus zu bauen!“
Wer da nicht Ja sagt, ist Kleingeist, lautet der Subtext. Nur, dass es der revoltierenden Bonner Bürgerschaft zunächst doch nur um jene Frage geht, die im Rheinland zum allseits beliebten Karnevalsschlager geworden ist und tatsächlich genausolang besteht wie die Beethovenhalle, für die sich das politisch-zeitgeistige Bonn so schämt: „Wer soll das bezahlen?“