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Wunder Fiorentino.

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Ein verkanntes Pianisten-Genie
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Dieser Fall ist ein Skandal für die ganze musikalische Welt. Überall hören wir die endlosen Klagen über den Niedergang des Klassik-Business. Dass dies ein seit einem halben Jahrhundert anhaltender, an die hemmunsglose Kommerzialisierung gebundener, schleichender Verfall ist, den erst das Naxos-Phänomen entscheidend beschleunigte, ist weniger bekannt. Kein Wunder, sei eingewendet, wenn man Musiker vom Range Sergio Fiorentinos schlichtweg übersieht und zu Randerscheinungen des Betriebs degradiert. Natürlich ist er (wie übrigens auch Eduard Erdmann und Marcelle Meyer) nicht in der Philips-Pianisten-Edition enthalten. Ernst Lumpe hat mich auf Fiorentino aufmerksam gemacht, jener selbstlose Kenner und Mäzen, der mit hinter den meisten der nun vorliegenden CD-Produktionen steht, als Ermöglicher der gesamten Aufnahmen aus später Zeit, als Informant, Fotograf und Mäzen. Ein wahres Wunder an überragender Musikalität enthüllt sich beim Anhören dieser Aufnahmen, die den Pianisten und Musiker Fiorentino — ähnlich wie etwa Michelangeli, Lipatti oder auch Gulda — als genialische Erscheinung ausweisen.

Sergio Fiorentino starb am 22. August 1998 im Alter von 70 Jahren. Nicht einmal in seiner italienischen Heimat war er zu jenem Zeitpunkt ein Star. In Neapel geboren, holte er 1947 in Monza den ersten Preis (in der Jury war Michelangeli) und im Jahr darauf gewann er bei den Wettbewerben in Neapel und Genua. Carlo Zecchi wurde ein entscheidender Mentor. Schnell machte Fiorentino internationale Karriere. 1953 debütierte er in der New Yorker Carnegie Hall.
Doch war 1954 während einer Südamerika-Tournee das Flugzeug, in dem er saß, zu einer Notlandung gezwungen, bei der er sich eine Wirbelsäulen-Verletzung zuzog. Erst nach Jahren konnte er wieder konzertieren, hatte jedoch den Anschluss an das Establishment verloren. Vielleicht wollte er auch einfach nicht mehr so weitermachen wie zuvor. Zwischen 1954 und 1967 machte er mehr als 30 LPs für das kleine Label Concert Artist, die in Kennerkreisen höchste Schätzung erfuhren. Er spielte nun vor allem regelmäßig in Großbritannien, doch wurde er des Reiselebens überdrüssig und lehrte nun bis 1993 am Konservatorium in Neapel. Erst in den letzten Jahren gab er wieder vermehrt Recitals.

Was macht nun seine besondere Kunst aus? Zunächst die späten Jahre, nehmen wir Schubert. Keinen außer Eduard Erdmann kenne ich, der so tief in die spezifische Welt der großen Sonaten vorgedrungen wäre. Die vollendete Ausformung der Details, die innige Sanglichkeit, das intuitive Erspüren des modulatorisch Wesentlichen, die Durchsichtigkeit der Faktur und völlig unkonventionelle artikulatorische Wendigkeit, gepaart mit einer Leichtigkeit und Brillanz des Pianistischen, einer nie versiegenden Noblesse und Aristokratie, die ihresgleichen suchen: All das wird gebündelt in einem unbestechlichen Sinn für lebendige, organische Formung, die nie den einmaligen Zusammenhang vergisst, in welchem jede Einzelheit ihre spezifische Funktion ausübt. Und zauberhafter, hinreißend beherrschter dürften Schuberts Impromptus nirgendwo zum Entstehen gebracht worden sein. Oder Bach: Wie kann einer riskieren, der Allemande aus der 4. Partita die scheinbare Endlosigkeit einer Viertelstunde zuzugestehen, ohne dass der Hörer nur einen Moment der Länge spürte – unerschöpfliche Poesie und Konzentration, ein innerer Monolog, der keines Zuhörers mehr bedarf, diesen aber reich beschenkt. Man merkt, dass dieser Musiker an einem anderen Ort angekommen ist, dass er nichts mehr will. Sein Arrangement der g-moll-Sonate für Solo-Violine ist übrigens von erlesenem, stilsicherem Geschmack und verdiente, auch von anderen ins Repertoire aufgenommen zu werden. Fiorentinos Schumann ist zwar romantische Fantastik, voll von Zauberei und Mystik, aber weniger äußerlich fiebrig als sonst. Von herrlicher Deutlichkeit im Plastischen ist sein Scriabin, in der zweiten Sonate fesselnd und vital von der ersten bis zur letzten Note, ohne jegliche Phasen undeutlichen Raunens. Bei Prokofieff gibt es Grenzen des Ausdrucks – das obsessiv Aufbegehrende, sich martialisch Entladende, der „Schmutz“, das revolutionär Gleißende: Fiorentino mag sich dafür nicht hergeben, unterwirft alles einer unerschütterlichen Nobilität. Rachmaninoff liegt ihm umso mehr und veredelter als unter seinen Händen kann man sich diese (in der ersten Sonate so weit ausufernde) Musik nicht vorstellen. Auch Chopin ist natürlich seine Welt, ohne den geringsten Anflug klischeehafter Sentimentalität erstehen die Werke mit feinst ausziselierter, geistdurchdrungener Monumentalität. Zu gerne möchten wir jetzt auch seinen Scarlatti, Haydn oder Brahms hören. Dafür gibt es live eine großartig durchmessene späte As-Dur-Sonate (op. 110) von Beethoven, mit untrüglichem Sinn für entschiedenen Charakter, weitgespannte Entwicklung, das Ausmaß der Kontraste. Herbe Linearität und Reichtum der Farben, virtuose Spielfreude und transzendente Geistigkeit sind bei Fiorentino in souveräner Balance, ohne das Spontane, improvisatorisch Empfundene auszulöschen. Nirgends wird es zu statischem Exerzitium.

Nichts anderes gilt für die früheren Aufnahmen. Wann hätte man Liszt mit solcher seriösen Lebhaftigkeit und kontemplativen Clarté vorgetragen gehört? Schumanns Kreisleriana oder Ravels „Valses nobles“ und „Gaspard de la nuit“ sind (live) von unendlicher Nuanciertheit bis in die entlegensten Verschattungen, aber stets mit dem unzweifelhaften Zug ins Große, soghaft als Prozess, der angesichts der Schönheiten ständig zum Verweilen einlüde. Mit Orchester ist Fiorentino in entlegenen Werken zu hören, die nie sonst in solcher Qualität festgehalten worden sein dürften: Busonis „Indianische Fantasie“ in traumverlorenen Stimmungsbildern, Casellas „Scarlattiana“ (ein kurios-antiromantisch-diatonisches Divertimento über 88 Scarlatti-Themen mit Kammerorchester) als Spielzeugladen feinsten Kunstgewerbes, mediterran stimmungsvoll das neoklassizistische Concerto von Emilia Gubitosi (1877–1972). Aber kehren wir zurück zum großen Repertoire, zu Mozart, Beethoven, Chopin und Liszt. Das Strukturelle bei letzteren Klaviergöttern erhält eine Präzision und Fasslichkeit, das Gewohnte weit hinter sich lassend, führt jedoch die so essenzielle Dimension des Unbefangenen aus dem Moment Entstehenden immerzu mit sich und wird so nie zur Demonstration. Beethoven hat alle Gewalt des Konflikts, das Pathos der Revolution, die Flügel umfassend tönender Poesie. Fiorentino erliegt nicht den so geläufigen Gefahren des Überhastens, Aufdonnerns, Belehrens, des rhetorischen Diskurses. Alles ist reflektiert und alles ist frisch, unmittelbar. Dieselben Qualitäten prägen sein Mozart-Spiel, welches ein absoluter Glücksfall ist, was Präsenz, Transparenz, Kantabilität, Schlichtheit auf der Grundlage erlesenster Raffinesse und blitzschnelle Flexibilität auf der Grundlage nicht ins Wanken zu bringender Kontinuität (dies nicht nur auf die Tempofrage bezogen) angeht. Natürlich kann man im Einzelnen anderer Ansicht sein. Doch wesenhafter ist diese Musik schwerlich zu erfassen.

Sergio Fiorentino auf CD

Späte Aufnahmen
Scriabin: 2. Sonate, Rachmaninoff: 2. Sonate, Prokofjeff: 8. Sonate; APR 5552
Chopin: 3. Sonate h-moll, Schubert: Sonate B-Dur D 960; APR 5553
Chopin: 1. und 4. Sonate, Rachmaninoff: 2. Sonate; APR 5556
J. S. Bach: Partiten Nr. 1 B-Dur und Nr. 4 D-Dur, Violin-Solosonate g-moll (transkr. S. Fiorentino); APR 5558
J. S. Bach: Französ. Suite Nr. 5 G-Dur, Präludien, Fugen, Bearbeitungen; APR 5559
Schumann: Fantasie C-Dur op. 17,
2. Sonate g-moll op. 22, Arabeske op. 18, Novelette op. 21/1, Romanze op. 28/2, 2 Lied-Transkriptionen; APR 5560
Schubert: Sonaten a-moll D 537 und A-Dur D 664, 4 Impromptus D 899; APR 5561
Fiorentino live 1993 in Deutschland: Beethoven: Sonate As-Dur op. 110, Chopin: 2. Sonate b-moll, Scriabin: 4. Sonate, Bach/Busoni: Präludium & Fuge D-Dur, Schumann, Liszt/Gounod, J. Strauß/Tausig bzw. Godowsky, Chopin, Tschaikowsky, Brahms; 2 CDs APR 7036
Fiorentino live 1962–87: Debussy: Estampes, Images I & II, L’isle joyeuse etc., Schumann: Kreisleriana, Ravel: Valses nobles et sentimentales, Gaspard de la nuit etc.; 2 CDs Fabula Classica 29902-2

Frühe Aufnahmen (1954–67)
„The Contemplative Liszt“: Weinen, klagen, sorgen, zagen, 6 Consolations, Nuages gris, La lugubre gondola, Unstern! etc.; APR 5581
„The Virtuoso Liszt“: 6 Ungarische Rhapsodien, Grande Fantasie sur la Clochette, Gnomenreigen, 2. Grande Etude de Paganini, Grand galop chromatique; APR 5582
Liszt: Années de Pèlerinage (Suisse, Venezia e Napoli); APR 5583
Liszt: 2. Klavierkonzert A-Dur, 1. Mephisto-Walzer, Spozalizio, Ab irato, 5 ungar. Volkslieder, Weber: Polonaise brillante, Chopin: Fantasie über polnische Weisen; Guildford Philharmonic Orch., Vernon Handley; APR 5584
Fiorentino live mit Orchester 1959–72: Busoni: Indianische Fantasie, Casella: Scarlattiana, Emilia Gubitosi: Concerto (1943); RAI-Orchester Neapel und Rom, M. Freccia, F. Scaglia, P. Maag; Fabula Classica 29908-2
Mozart: Sonaten KV 283, 309, 310, 311; Concert Artist CACD 9220-2;
Mozart: Sonaten KV 330, 331, 332; CACD 9221-2
Mozart: Sonaten KV 457, 545, 570, 576, Fantasie c-moll KV 475; CACD 9222-2
Beethoven: Sonaten As-Dur op. 22, Es-Dur op. 27/1, D-Dur op. 28; CACD 9204-2
Beethoven: Sonaten Op. 10 Nr. 1–3, Fis-Dur op. 78; CACD 9207-2
Beethoven: Sonaten Es-Dur op. 7, G-Dur op. 79, c-moll op. 111; CACD 9212-2
Chopin: Fantasie f-moll op. 49, Scherzi Nr. 1–4, Berceuse op. 57, Barcarolle op. 60; CACD 9231-2
Chopin: 26 Mazurken; CACD 9200-2
Liszt: 12 Etudes d’exécution transcendante; CACD 9201-2

Vertriebe: APR bei Musikwelt, Fabula Classica bei Bella Musica, Concert Artist über amazon.com.

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