Es sind bekanntlich nicht „die Medien“, die dumm machen oder zum Nachdenken einladen, sondern es sind die Leute, die in ihnen arbeiten. Durch zwei konträr gelagerte Fernsehsendungen wurde diese Binsenweisheit jüngst wieder einmal ins Bewusstsein gerückt.
Einmal geschah das durch die brillante, punktgenau platzierte Fernsehschelte von Marcel Reich-Ranicki bei der Verleihung der Fernsehpreise im ZDF. Entlarvender noch als die rührend-hilflosen Spontanreaktionen auf die Kritik war das Schauspiel am Tag danach, als die Fernsehleute zu öffentlichen Entgegnungen ansetzten. Dabei versuchten sie den Spagat zwischen der pflichtgemäßen Verteidigung ihres Apparats und dem letzten Rest an kulturell schlechtem Gewissen.
Blödsinn könne ja auch geistreich sein, war da zu hören. Oder: Der Kritiker habe mit seiner Provokation sich und dem Fernsehen geschadet – ersteres eine groteske Fehleinschätzung, denn der knarzige Alte hat es nicht mehr nötig, beim Fernsehen um ein „positives Image“ zu buhlen. Dass es solche unabhängigen Normalmenschen noch gibt, scheint die betriebsblinden Fernsehmenschen am meisten zu wurmen. Etwa die NDR-Talkshow-Frau Barbara Schönberger, die sich bei Beckmann aufgeregt schnatternd über den ungezogenen Preisträger beschwerte, hatte der sie doch schon in ihrer eigenen Sendung einmal wortgewaltig abgebürstet.
Doch es gibt auch noch die andere Seite. Zu besichtigen war sie am 30. September in einer Sendung mit Verdis „La Traviata“. Die Direktübertragung kam nicht aus einem Opernhaus, sondern aus dem Zürcher Hauptbahnhof – ein einzigartiges Experiment, das nicht nur die unverwüstliche Aktualität des Werks, sondern auch die unausgeschöpften Möglichkeiten des Mediums Fernsehen eindrucksvoll unter Beweis stellte. Die Koproduktion zwischen dem Zürcher Opernhaus, dem Schweizer Fernsehen, dem Kulturkanal Arte und der Schweizerischen Bundesbahn (!) war der wohl intelligenteste und perspektivenreichste aller Versuche, die in den letzten Jahren im Schnittpunkt von traditioneller Oper und Massenmedium Fernsehen unternommen wurden. Regisseur der generalstabsmäßig vorbereiteten Produktion war Adrian Marthaler, der schon in den 80ern mit experimentellen Musikproduktionen von sich reden machte.
Erzählt wurde die Handlung nicht auf einer Guckkastenbühne, sondern an wechselnden Schauplätzen im Bahnhof: auf dem Perron, im Café, vor dem Kiosk … Der erste Akt spielte im Feierabendverkehr kurz nach acht, das traurige Finale gegen elf vor Spätheimkehrern. Und zwischen dem Laufpublikum, das teils neugierig stehen blieb, teils hastig durchs Bild dem Zug entgegen eilte, Scharen von „normalen“ Opernbesuchern. Beim Duett zwischen Alfredo und Violetta am Cafétisch saßen im Hintergrund Gäste, die der Kellner bediente, als ob keine Kamera da wäre. Das Live-Publikum war selbst Teil der Inszenierung. Doch es konnte immer nur einzelne Aspekte der örtlich weit verstreuten Handlung erfassen. Diese fügte sich erst im Fernsehen zu einem kompakten Ganzen.
Eindrucksvoll an dieser Produktion war nicht nur die technische Realisierung mit ihren hunderten von Mikrofonen und Scheinwerfern und den 15 Kilometern Kabel, die im Bahnhof verlegt wurden, sondern auch die mediale Resonanz. Das Schweizer Fernsehen meldete einen Marktanteil von 34,4 Prozent, und selbst die anschließende Diskussion über Sinn und Zweck des Unternehmens verfolgten noch rund 30 Prozent der Zuschauer. Nicht minder erstaunlich der Grad des musikalischen Gelingens. Die Sänger agierten zum Teil außer Sichtweite von Dirigent und Orchester, doch dank Kopfhörer und Mikrofon klappte die musikalische Koordination so gut wie im Theater. Problemlos bewegten sich die Solisten in der ihnen fremden Umgebung, mit Überzeugungskraft und Konzentration transportierten sie Verdis packende Geschichte in die Alltagswelt des Bahnhofs. Das befragte Publikum vor Ort äußerte sich positiv bis euphorisch. In den Pausen schlüpften die Darsteller kurz in ihre Haut als Privatperson und plauderten mit der Moderatorin über Fragen der Interpretation. In der Souveränität, mit der sie zwischen dramatischer Realität, Medium und Alltagssituation wechselten, präsentierte sich ein neuer Typ von Interpret, wie er vor zwei, drei Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre.
Möglich gemacht wurden solche neuen Hör- und Seherfahrungen und Einsichten zur Prime Time und mit einer Sehbeteiligung, die es spielend mit dem epidemischen Unterhaltungsschrott aufnehmen kann. Was folgt daraus? Hohe Einschaltquoten sind nicht zwingend an tiefes Niveau gebunden, der schlechte Ruf des Mediums ist nicht Schicksal. Die Verantwortlichen könnten das ändern. Alles, was es dazu brauchte, wären zündende Ideen und eine Portion Mut. Und das Publikum würde es honorieren.