Nur zwei Diskussionen am runden Tisch über zeitgenössische Musik (mit dem polnischen Komponisten Penderecki, dem Chilenen Schidlowsky, dem venezolanischen Professor Espejo und mir selber) belebten die Atmosphäre der Musikstudenten und riefen lebhaftes Interesse und Beteiligung hervor“, so schreibt Luigi Nono über seine Begegnung und Zusammenarbeit im Jahr 1968 mit Leon Schidlowsky.
Will man mehr über den Inhalt dieser Diskussionen erfahren, wird man auf Ideen stoßen, die nicht nur für eine Zeit, sondern das gesamte Leben und Schaffen sowohl Nonos als auch Schidlowskys grundlegend sind: „Die Diskussionen betrafen die Kultur in ihrer Bewährungsprobe und Verantwortung im Konflikt zwischen Kapitalismus/Neokolonialismus und Befreiungskampf/Sozialismus. Auf der einen Seite universelle Werte, ethisch-moralische Positionen, Glaube an die Technik, auf der anderen Seite Analyse der historischen Entwicklung, Unterscheidung zwischen ursprünglicher autoch- thoner und der durch die imperialistische Herrschaft angesteckten Kultur, schöpferische Verwendung und Erfindung neuer Ausdrucksmittel für eine neue Kultur, die konstruktiver Teil der nötigen ideellen und praktischen Führung der Arbeiter- und Studentenbewegung Che Guevaras und Camillo Torres ist.“ Leon Schidlowsky, der Komponist, Maler, Lehrer, Philosoph und Mensch bleibt dem breiten Publikum unbekannt. Und dies, obwohl seine Werke von Dirigenten wie Hermann Scherchen, Zubin Mehta, Aldo Ceccato, Lukas Foss, Herbert Kegel, Clytus Gottwald und Juan Pablo Izquierdo und entsprechend berühmten Orchestern aufgeführt wurden.
„Ich bin zwischen Bergen und Meer aufgewachsen. Chile ist schon immer für fremde Kulturen und Einflüsse offen gewesen; es hat mir seine Poesie, die starken Farben und die Sprache gegeben – aber mich auch zum Rebellen, zum Fremden, zum Nicht-Chilenen gemacht.“ Diese Widersprüche, diese Rebellion gegen seine eigene Heimat, das Fremd-sein in der Heimat, die Identität nicht durch eine Nationalität definieren zu wollen, sind Gefühle, die Schidlowsky mit einer Reihe großer Wanderer verbindet wie Gustav Mahler, Else Lasker-Schüler, Arnold Schönberg und Luigi Nono.
Und nicht zuletzt mit dem leider unbekannten Dichter-Philosophen Edmond Jabès, der schreibt: „Ein Fremder war ich, nur eine fremde Welt konnte die meine sein.“ Geboren 1931 in Santiago de Chile, studierte Schidlowsky dort Klavier, Komposition, Philosophie und Psychologie. 1952 bis 1954 setzte er seine musikalischen Studien in Detmold fort und schloss sich nach seiner Rückkehr der „Tonus Gesellschaft zur Förderung zeitgenössischer Musik“ an, die ihn 1957 zu ihrem Direktor ernannte. 1961 wurde er Sekretär des Chilenischen Komponisten-Verbandes, 1962 Leiter der Musikabteilung an der Universität von Chile, wo er 1967 einen Lehrauftrag für Komposition erhielt. 1969 wurde Schidlowsky mit einem Stipendium der Guggenheim-Stiftung ausgezeichnet und verbrachte ein Studienjahr in Deutschland.
Seine Rebellion lässt sich nicht unter politischen Aspekten begrenzen – ebensowenig wie die Nonos, sondern sie drückt ein tiefes Bewusstsein über die Eigenverantwortung des Menschen aus. „Ich bin verantwortlich für die Totalität der Welt, also für alles Verstehbare“, schreibt Jabès und zeigt die Tiefe solcher Überzeugung. „Meine musikalische Identität ist vom Ringen gegen Konservatismus, Folklorismus und von einer Sehnsucht nach chilenischen Wurzeln, die es nie wirklich gab, geprägt.