Deutliche Überalterung des Publikums in den Konzertsälen und Opernhäusern, durchweg rückläufige oder stagnierende Reichweiten der ausschließlich durch Klassik geprägten Kulturangebote im Rundfunk, drastisch sinkende Umsätze für Produktionen mit klassischer Musik auf dem Tonträgermarkt – wer wäre nicht gewillt, in den vielstimmigen Chor all jener einzustimmen, die seit Jahren die große Krise der Klassik aufziehen sehen? Der allenthalben propagierten Verödung der Musiklandschaft in Deutschland wird nachhaltig nur entgegenzuwirken sein, wenn Basisarbeit dahingehend geleistet wird, dass ein potenzielles Publikum zu einem denkbar frühen Zeitpunkt an ein möglichst vielseitiges Musikangebot herangeführt wird – und zwar mit geeigneten Mitteln.
Da dies bis vor wenigen Jahren schlicht ignoriert wurde, ist die aktuelle Krise, die sich wohl nicht wegdiskutieren lässt, hausgemacht. Irreversibel ist nämlich eine gesellschaftliche Entwicklung, die, bedingt durch eine ausgeprägt popkulturelle Sozialisation der deutschen Nachkriegsgenerationen, dazu geführt hat, dass selbst in Schichten mit gehobenem Bildungsniveau die Beschäftigung mit klassischer Musik nicht mehr zu den Selbstverständlichkeiten gehört. Der Umgang mit dem Kulturgut E-Musik ist folglich heute nur noch eine Option unter vielen innerhalb eines ausufernden Freizeitangebots. Dies sei als Faktum festgehalten, ohne deswegen gleich in die Klagegesänge der Kulturpessimisten einzustimmen.
Neben dem Heranführen des Nachwuchspublikums an die musikalischen Inhalte besteht eine zweite wichtige Zukunftsaufgabe in der Erneuerung der Darbietungsform Konzert und der die-se sekundierenden Erscheinungen. Viele Faktoren führen zu einer Haltung, die mit dem ohnehin überstrapazierten Begriff der „Schwellenangst“ nur unscharf erfasst ist. Es ist wohl weniger eine Angst, die das jüngere Publikum auf Distanz zum traditionellen Konzertbetrieb hält, als vielmehr das Gefühl, dort mit inhaltlichen und formalen Codes konfrontiert zu werden, die in der eigenen Lebenswirklichkeit keine Rolle spielen, für die folglich auch der passende Schlüssel fehlt.
Nun genügt es nicht, dieses bestehende Bild an der einen oder anderen Stelle zu übermalen, um zu neuen Präsentationsformen zu gelangen. Um die etablierten Strukturen zukunftswirksam zu reformieren, bedarf es umfassender und integrierter Konzepte, an denen Künstlerpersönlichkeiten ebenso mitarbeiten müssen wie Marketingstrategen und dafür eigens qualifizierte Pädagogen. Solche Konzepte ausfindig zu machen und für preiswürdig zu erachten, hatte eine sechsköpfige Jury zur Aufgabe, die den 2006 erstmals ausgelobten „junge ohren preis“ vergeben sollte. Initiatoren des Preises sind die Jeunesses Musicales Deutschland, die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) und die Initiative Hören. An ausschreibungskonformen Aktivitäten ist kein Mangel. Den (nur) einundzwanzig Einreichungen hätte jedes Jurymitglied aus dem Stand noch eine Handvoll Projekte hinzufügen können, denen man im eigenen privaten oder beruflichen Umfeld begegnet war, ohne dass diese hier aufgetaucht wären. Dennoch offenbarten die Bewerbungen das breite Spektrum der derzeitigen Angebotslage. Von der „One-Man-Show“ bis zum großen Orchesterprojekt und von der Heranführung an ein einzelnes Instrument bis zum mehrere Sinne fordernden Kunst-erlebnis im Spannungsfeld zwischen bewusstem Rezipieren und eigenem kreativen Tun reicht die Palette. Auffällig war, dass die Aktivitäten da besonders ausgeprägt sind, wo die Damokles-Schwerter, von Etatkürzungen und Fusionen bis hin zu Schließungen, am intensivsten gespürt werden, nämlich im Bereich der Orchester und Theater in kommunaler Trägerschaft. Über die Hälfte der Bewerbungen stammte aus diesem Bereich, und es war erstaunlich zu erleben, mit wie viel Fantasie an Projekten gearbeitet wird, die der Rek-rutierung des Besuchernachwuchses dienen. Vielfach lässt das Engagement richtige Ansätze erkennen, beispielsweise indem das praktiziert wird, was der Vorsitzende des Deutschen Kulturrats, Max Fuchs, als „aufsuchende Kulturarbeit“ bezeichnet. Nicht primär die Kinder und Jugendlichen ins eigene Haus zu holen, sondern begleitend da aktiv zu werden, wo die anvisierten Zielgruppen „zuhause“ sind, diese Form des Zugangs wird durchaus genutzt und die von Fuchs in diesem Zusammenhang empfohlene Kooperation mit Schulen und Kindergärten häufig gesucht. Der Orchestermusiker im Klassenraum oder das Sinfonieorchester in der Turnhalle sind in der deutschen Kulturlandschaft derzeit keine Seltenheit!
Da für die Realisierung solcher Projekte vor allem im Bereich des Personals auf „Bordmittel“ zurückgegriffen werden muss, entstehen Konzepte, die in der Regel gut gemeint und auf dem Papier überzeugend dargelegt sind. Häufig genug scheitert die praktische Umsetzung jedoch an der Tatsache, dass ein Konzertdramaturg, statt Programmhefte zu redigieren, plötzlich musikdidaktische Ziele verfolgen und ein Orchestermusiker, statt auf der Bühne oder im Graben sein Instrument zu spielen, Vermittlungsarbeit leisten soll, die von seinen vielfach vermutlich sogar vorhandenen instrumentalpädagogischen Fähigkeiten noch mal ein ganzes Stück weit entfernt ist. Diese Art fachfremder Arbeit führt zu Konzeptionen, die durch eine Erwachsenenperspektive geprägt sind und die Kinder als Rezipienten sehr oft nicht hinreichend ernst nehmen. Eine Anbiederung an die vermeintliche Erlebniswelt von Kindern und Jugendlichen oder, schlimmer noch, schlichter Klamauk sind dann die Folge. Dies gilt durchaus auch für den Bereich freier Anbieter von sogenannten Kinderkonzerten. Eine gern genutzte Alternative zu einem solchen Szenario ist der „Zukauf“ eines musikdidaktischen Konzepts für jeweils ein einzelnes Konzert. Nicht dass man damit hinsichtlich der angeführten Ansprechhaltung vor Problemen gefeit wäre, hier kommt auch noch der Faktor fehlender Nachhaltigkeit hinzu. Meist entstehen singuläre Ereignisse mit hohem Eventcharakter, die aber selten in eine kontinuierliche Aufbauarbeit münden oder gar von vornherein in eine solche eingebettet sind.
Im Konzertbetrieb fehlt bislang, was in der Museums- und Theaterlandschaft gang und gäbe ist: in ausreichender Zahl eigens für diese Arbeit ausgebildete Konzertpädagogen, die an den Häusern angestellt oder als Freelancer zumindest dauerhaft an diese gebunden sind, um dort gemeinsam mit den künstlerisch Verantwortlichen langfristig wirksame Konzepte zu entwickeln, eingebunden in ein Netzwerk mit Schulen, Musikschulen, Kindergärten und anderen Einrichtungen der kulturellen Aus- und Weiterbildung. Kinder- und Jugendangebote müssen integraler Bestandteil der Spielpläne sein und enge Rückkopplung an den „normalen“ Konzertbetrieb haben. Im kreativen Umgang mit der Materie, auch über die Musik hinaus, werden die neuen Zielgruppen an die Inhalte herangeführt, schärfen ein multisinnliches Wahrnehmungsvermögen und lernen die bewusste Rezeption, ohne dass die bislang alles beherrschende Kopflastigkeit der Musikvermittlung länger zum Tragen käme.
Das Education-Programm „Zukunft@BPhil“ der Berliner Philharmoniker ist hier mit diversen Projekten ein gutes Stück vorangekommen. Am Leipziger Gewandhaus versteht man es darüber hinaus, auch das Mediennutzer-Verhalten junger Menschen unter Aufbietung nicht unerheblicher Mittel und straffer Logistik in ein Konzept zu integrieren. Wenn sich auf dieser Basis der etablierte Konzertbetrieb noch einiger seiner überkommenen Rituale entledigen würde, wäre manches gewonnen. Da das alles mit festen neuen Etatposten verbunden ist, wird sich allerdings ohne politische Grundsatzentscheidungen vielerorts die Katze in den Schwanz beißen.
Richtungsweisende Initiativen
Die Jurybegründung des „junge ohren preises 2006“Die Jeunesses Musicales Deutschland, die Deutsche Orchestervereinigung und die Initiative Hören verleihen den „junge ohren preis 2006“ an die Berliner Philharmoniker für das Projekt „MusicART – Blitzlichter“ im Rahmen des Education-Programms „Zukunft@BPhil“. Die Jury würdigt damit eine richtungsweisende Initiative, die in mehrfacher Hinsicht vorbildlich ist:
- Es wurde eine eigene Infrastruktur geschaffen, die für Kontinuität, Nachhaltigkeit, pädagogische Kompetenz und eine enge Anbindung der Projekte an den Spielplan des Orchesters steht.
- Das Projekt bedient sich einer Netzwerk-Struktur, in die unterschiedliche Schulformen ebenso integriert sind wie andere Kultureinrichtungen.
- Die Musiker des Orchesters sind intensiv in die Projektarbeit einbezogen.
- Auf der Basis eines komplexen zeitgenössischen Musikstücks wird eine multisinnliche Wahrnehmungsschulung vermittelt, die emotionale und kognitive Kunsterfahrung in einer sorgfältig austarierten Balance hält.
- Durch den unmittelbaren Kontakt mit Musikern, bildenden Künstlern und Komponisten werden Berührungsängste abgebaut.
Die Jeunesses Musicales Deutschland, die Deutsche Orchestervereinigung und die Initiative Hören verleihen im Rahmen des „junge ohren preises 2006“ einen Sonderpreis an das Gewandhausorchester Leipzig für das Projekt „Hörsessions, Soundchecker, HÖRbar“. Obwohl es sich, im Sinne der Ausschreibung, nicht um ein einzelnes Konzert handelt, erkennt die Jury mit der Vergabe des Sonderpreises das innovative Potenzial an. Die einzelnen Bestandteile des Konzepts stehen für eine enge Anlehnung an die musikalischen Erlebniswelten junger Menschen, inklusive Mediennutzung und kommunikativer Begegnung. Die direkte Ansprache potenzieller Konzertbesucher ist dabei ebenso richtungsweisend wie eine eigens geschaffene „Begegnungsstätte“ im Foyer des Gewandhauses. Die „Hörsessions“ sind ideal für einen Dialog über Musik, der sich jenseits traditioneller musikdidaktischer Modelle vollziehen und so das junge Publikum da abholen kann, wo es aufgrund seiner Lebens- und Erlebniswelten steht.