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Plenumsworkshop „Hören – Sehen – Beurteilen“ zum Stimmwechsel bei Knaben. Foto: Swen Reichold

Plenumsworkshop „Hören – Sehen – Beurteilen“ zum Stimmwechsel bei Knaben. Foto: Swen Reichold

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Der singende Mensch und seine Lebensumstände

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Das 20. Leipziger Symposium zur Kinder- und Jugendstimme widmete sich dem Thema „Person – Identität – Gemeinschaft“
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Auch diesmal ist das Programm des Leipziger Symposiums zur Kinder- und Jugendstimme anspruchsvoll und dicht gedrängt. Zum 20. Mal in Folge treffen sich Angehörige medizinischer, psychologischer, pädagogischer und sängerischer Berufe für ein Wochenende in der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. 

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Dass es dabei nicht nur um die Stimme als solche geht, sondern auch um die singenden und sprechenden Menschen und deren Lebensumstände, ist gute Tradition. Mit dem Motto „Person – Identität – Gemeinschaft“ hat das Vorbereitungsteam unter Leitung von Prof. Dr. Michael Fuchs (Universitätsklinikum Leipzig, Sektion Phoniatrie und Audiologie) ein spannendes Thema ausgewählt. Schließlich ist der Begriff „Identität“ derzeit besonders aufgeladen. Den einen dient er als Leitstern, den anderen als Reizwort. Zwischen den Extremen behauptet sich in Leipzig zunächst einmal die wissenschaftliche Neugierde.

Die beiden zentralen Vorträge von Eva Spaeth (Berlin) und Yoshihisa Matthias Kinoshita (Wolfratshausen) am Freitag behandeln „Chöre als dynamische Gruppen – psychologische Aspekte des Dirigierens“ und „Beziehungsarbeit im Chor als Grundlage für die Entfaltung des Individuums“. Für einen „Blick über den Tellerrand“ stehen die Beiträge „Parallelen der Stimmproduktion bei Menschen und anderen Säugetieren“ von Dr. Christian Herbst (Wien) sowie „Die Stimme als Resonanzraum von kulturellem Erbe“ von Prof. Dr. Tiago de Oliveira Pinto (Weimar). 

Abgerundet wird das Programm durch einen konzertanten Vortrag des mongolischen Musikers Yesun-Erdene Bat mit Khöömii-Gesang und Pferdekopfgeige. An den beiden Folgetagen liegt der Fokus auf Entwicklungsfragen. Thomaskantor Prof. Andreas Reize und Prof. Dr. Michael Fuchs informieren über interprofessionelle Betreuungskonzepte beim Stimmwechsel im Leipziger Thomanerchor; Friederike Stahmer berichtet über den Umgang mit dem Stimmwechsel beim Mädchenchor der Berliner Singakademie; Prof. Heike Henning (Innsbruck) spricht über Identitätsbildung im Kontext chorpädagogischer Arbeit; und der Hallenser Mediziner, Psychiater und Psychotherapeut Dr. Mirko Döhnert erläutert die klinische Sicht auf Transgender. Manches ist für Fachfremde in der Kürze der Zeit schwer aufzufassen. Aber es bleibt die Gewissheit, den Vortrag ein Jahr später im pünktlich erscheinenden Tagungsband nachlesen zu können.

Vier Workshops, die das Publikum reihum durchläuft, vertiefen Praxisbezug und Anschaulichkeit. Döhnert und seine Leipziger Kollegin Dr. Désiré Brendel sprechen mit den Anwesenden über die Entwicklung von Identität allgemein. Felix Schirmer (Köln) stellt die Methode „The Intelligent Choir“ des dänischen Experten Prof. Jim Daus Hjernøe vor, bei der die Chorleitung Verantwortung an die Sängerinnen und Sänger abgibt und damit spontanes Musizieren ermöglicht. Vera Zweiniger (Berlin) macht anschaulich, wie man als klassisch geschulter Mensch einen Popchor aufbauen kann. Und der Berliner Stimmbildner Thomas Lascheit gibt einen spannenden Einblick in seine „Arbeit mit trans*, inter* und non-binären Menschen“. Zum samstäglichen Plenumsworkshop im voll besetzten Konzertsaal hat Prof. Nils Ole Peters, Stimmbildner beim Knabenchor Hannover, vier seiner Zöglinge mitgebracht. Sie befinden sich in verschiedenen Stadien des Stimmwechsels, demonstrieren dies bereitwillig mit der Stimme und lassen sich zu ihren Erfahrungen befragen. Am persönlichen Beispiel erkennt man eindrücklich, dass kein Stimmwechsel dem anderen gleicht und dass es verschiedene Optionen gibt, ihn im Knabenchor durchzustehen. 

Beeindruckend sind die Unbefangenheit, Offenheit und Professionalität der vier Probanden auf dem Podium. Wesentlich dazu bei trägt die einfühlsame, humorvolle und gleichermaßen professionelle Haltung ihres Lehrers. Man spürt die gute Arbeitsatmosphäre – und nicht nur die im Hannoveraner Knabenchor, sondern auch die auf der Tagung selbst. Der vollbesetzte Saal folgt dem Workshop mit Empathie, Interesse und Respekt. Überhaupt verdient sich das Publikum Komplimente: Die zum Teil knapp bemessenen Pausen werden kaum überzogen, man hört konzentriert zu, der Saal ist auch am Abend noch voll. Vor allem in den Workshops gibt es engagierte Nachfragen, und es werden auch persönliche Erfahrungen mitgeteilt. Auf dem Podium bleiben wissenschaftliche Rivalitäten aus; Kollegialität prägt den Umgang. Und vorbildlich ist die Wertschätzung, die Michael Fuchs als Leiter der Veranstaltung sämtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Organisation und Konzeption entgegenbringt.

Selbstverständlich ist das nicht – vor dem Hintergrund eines Zeitgeistes, den der junge Historiker Anton Jäger gerade so beschreibt: „Die Menschen sind im neuen Jahrhundert einsamer, aber auch aufgeregter; atomisierter, aber auch vernetzter; wütender, aber auch verwirrter.“ Blättert man im gerade erschienenen Kongressbericht von 2022, so stößt man auf einen Beitrag von Desirée Brendel zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Zeiten der Pandemie. Deren Bedarf beschreibt sie mit Begriffen dreier englischer Psychoanalytiker als „Holding“, „Containment“ und „Mentalizing“: Sie müssen a) persönlichen Halt erfahren, b) mit ihren Emotionen aufgefangen werden und c) mit ihren eigenen Gedanken, Gefühlen und Impulsen und denen ihrer Mitmenschen umgehen lernen. „Eine Gruppe“, schreibt Brendel, „funktioniert ähnlich wie eine noch unreife Psyche“. Und: „Wie in der Musik können Dissonanzen untereinander auch bereichern und zum kreativen Wachstum anregen.“ Kann man im Nachhinein dieses 20. Leipziger Symposium als eine Art geglückten Großversuch im Miteinander-Wachsen binnen 48 Stunden verstehen?

Jedenfalls gelingt es am Sonntag, kurz vor Schluss, im Konzertsaal der Hochschule noch einmal einen geschützten Raum zu schaffen. Aufmerksam und nachdenklich moderiert Mirko Döhnert das Rundtischgespräch über „Geschlechtsidentität und Stimme“. Unterstützt von Thomas Lascheit sprechen Sascha V. und Jason K. über ihren schwierigen Weg zu männlicher Identität und Stimme; die Sängerin AMY beschreibt die umgekehrte Transformation. Alle drei geben authentische Erfahrungen preis. Man erlebt keine „Gen­der-Ideologie“, sondern Menschen, die durch ihr Schicksal in besonderer Weise gefordert sind. Von der Gesellschaft erhoffen sie sich mehr Offenheit – und erleben zunehmend Feindseligkeit und Hass. Eine ältere Teilnehmerin gibt ehrlich zu Protokoll, sie fühle sich von der Thematik überfordert. Jason K. bittet sie, die Überforderung ein Stück weit auf sich zu nehmen, um dafür anderen das Leben leichter zu machen. Dass in der Tat wir alle gefordert sind, macht schon am Samstagabend der Hauptvortrag von Wilhelm E. Schmid deutlich. Das Thema „Selbstfreundschaft – Der Umgang mit sich selbst als Voraussetzung für den Umgang mit Anderen“ bleibe eine Aufgabe für jeden Menschen, erklärt der Berliner Philosoph, der eine lange Erfahrung als Krankenhaus-Seelsorger mitbringt. „Wenn Sie die Auffassung vom Leben haben, man müsse glücklich sein, dann viel Spaß!“ warnt Schmid ironisch. Viel wichtiger als Glück sei Sinn. Das beliebte Schlagwort „Identität“ suggeriere fälschlich, dass sowohl Personen als auch Nationen stets dieselben bleiben könnten. Sie seien aber in stetiger Entwicklung, und daher heiße die Aufgabe für alle Menschen: Integration. Deren Gelingen bemesse sich an sieben wichtigen Fragen – angefangen von „Was sind meine wichtigsten Beziehungen?“ bis hin zu „Was ist für mich schön“? 

Schön, und nützlich sowieso, wäre es, wenn sich Geist und Haltung dieses Leipziger Symposiums auch andernorts etablieren ließen. Wie formuliert es der Soziologe Hartmut Rosa? „Resonanz ist die Transformation der Identität durch die Begegnung mit dem Anderen.“ Und auch die Kinder- und Jugendstimme hat sicher mehr Aufmerksamkeit verdient. Nicht nur im Bereich Transgender, wo Michael Fuchs und Mirko Döhnert deutliche Wissens- und Beratungsdefizite im Bereich der Medizin einräumten, sondern auch in der Schule mit ihrer großen Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung. Der Stimmwechsel tauche in keinem deutschen Lehrplan auf, war beiläufig zu hören.

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