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Foto: Juan Martin Koch
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Distanz-Unterricht in Tönen – Fluch oder Segen?

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Eine Umfrage im Tonkünstlerverband München zeigt ein breites Spektrum an Erfahrungen und Einschätzungen
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„Online-Unterricht hat nichts mit dem von mir erlernten und ausgeübten Beruf zu tun“ – so der Tenor eines Münchner Musikpädagogen. Nach monatelangen pandemiebedingten Einschränkungen und erteiltem Berufsverbot während des Lockdowns wichen viele freie Musikpädagogen auf Online-Unterricht aus, weil sie ihren Lebensunterhalt zu verdienen hatten und diese Unterrichtsform wie ein Rettungsring daherkam.

Lehrkräfte, aber auch ihre Schüler und deren Eltern sahen sich völlig unvorbereitet mit einer Situation konfrontiert, die weder im Ausmaß noch in der Konsequenz absehbar schien. Während im ersten Lockdown der Unterricht fast völlig ruhte, wurden die Instrumental- und Gesangslehrer im Herbst des vergangenen Jahres ungefragt in die Rolle der Online-Vermittler gedrängt. Doch was passiert, wenn Schüler und Lehrer nur noch am Bildschirm lernen und lehren? Welche Unterschiede gibt es in den verschiedenen Altersgruppen? Wie sind Lehrer und Schüler technisch ausgestattet? Muss die Methodik geändert werden? Gibt es Kündigungen aufgrund des Distanzunterrichts? Wie hoch sind die Einkommenseinbußen?

Diesen Fragen sind die Tonkünstler München im Februar in einer offenen Umfrage, die in Form einer qualitativen Forschung geführt wurde, nachgegangen. Es gab vierzig Rückläufe, die, unter dem Aspekt der allgemeinen Umfragemüdigkeit betrachtet, unerwartet kompakte und mit Sorgfalt verfasste Antworten enthielten. Diese sollen hier näher beleuchtet werden.

Der prägnanteste Eingriff in das Unterrichtsgeschehen wird durch den Einsatz von Technik verursacht, die nicht zum Berufsbild eines Musikpädagogen gehört. Auch die digitale Ausstattung der Schüler ist trotz Homeschooling nur mangelhaft. Von Seiten der Lehrer wurden, finanzielle Mittel vorausgesetzt, Geräte wie Smartphone, Tablet, Headset, Audio-Interface, Mikros und externe Kameras, LAN-Kabel, Repeater und Webcam angeschafft. Der Kontakt lief über WhatsApp, Zoom, Skype und Jamkazam. Ein Teil der Lehrer investierte nicht, da er die Unterrichtsform nur als absolute Zwischenlösung betrachtet. Schüler griffen auf die Geräte zurück, die vorhanden waren, also auch auf die der Eltern. Die Endgeräte sind aber für Musikübertragung nicht geeignet, da eine höhere Internetleistung gebraucht wird, die zudem an ihre Grenzen stößt, wenn mehrere Personen gleichzeitig im Netz sind. Der Unterricht muss oft dort stattfinden, wo zwar das beste Netz, aber nicht der beste Ort ist. Auf die technische Ausrüstung der Schüler hat der Lehrer aber keinen Einfluss. Aufgrund dieser Schieflage ist die Qualität der Übertragung nicht adäquat, ein Zusammenspiel wegen der Latenz nicht möglich, Feinheiten in der Dynamik und Tonqualität nicht erkennbar und die Interaktion stark eingeschränkt. Einfrierende Bilder, Geräuschbelastung durch Unruhe im häuslichen Umfeld der Schüler und Eigengeräusche der Instrumente (Tasten bei E-Pianos) stören den Unterrichtsverlauf enorm.

In der Vermittlung wird alles kleinschrittiger, wortlastiger, zeitaufwändiger und mühsamer. Die Lehrer bemängeln das ständige Starren auf den Bildschirm als absolut ungesund, weil auch besonders bei den kleinen Schülern, die haptisch wahrnehmen, schnell die Konzentration nachlässt. Die Literatur muss auf Onlinetauglichkeit geprüft und das Notenmaterial umfangreicher aufbereitet werden. Die Unterrichtsabfolge wird auf stures Vor- und Nachmachen reduziert, was zu Motivationsproblemen führt. Bei kleinen Schülern ist zudem die Mithilfe eines Elternteils unerlässlich. Zum besseren Verständnis müssen Demo-Videos zwischen den Unterrichtsstunden verschickt werden. Der Fortschritt verlangsamt sich deutlich. Ein Honorar für eine derart schlechte Notlösung sieht ein Teil der Lehrer als nicht gerechtfertigt.

Als Folge der wochenlangen Bildschirmarbeit nannten die Musikpädagogen nachstehende gesundheitliche Probleme: Belastung des Gehörs, Ohrgeräusche und Hyperacusis, Erschöpfung, Depression mit Krankenhausaufenthalt, psychische Belastung, „Dröhnen“ des Kopfes am Abend, Zermürbung durch Planungsunsicherheit, Einsamkeit.

Die Altersgruppe mit den größten Vorbehalten auf Schülerseite ist die der Erwachsenen. Sie sträubt sich gegen die Technik und es ist für sie keine Option, in den Bildschirm zu singen oder zu spielen. Wegen Homeschooling und Kinderbetreuung verlieren sie die Lust an ihrem Hobby. Ältere suchen Kontakt und Abwechslung durch gemeinsames Musizieren, das nicht möglich ist. Wegen der Angst vor Ansteckung bleiben sie auch dem Präsenzunterricht fern. In dieser Altersgruppe gab es die meisten Einbrüche besonders für die Lehrer, die ausschließlich Erwachsene unterrichten und nun von Arbeitslosigkeit bedroht sind.

Einstimmigkeit herrschte bei der Beurteilung der Online-Option, die nur als absolute Notlösung betrachtet wird. Manche Musiklehrer empfinden den Unterricht als eine schreckliche Quälerei, die zu Frustration führt. Andere belastet das Verlangen nach mehr Flexibilität bezüglich der Unterrichtszeiten, die wegen des Schulunterrichts am Nachmittag ständig neu justiert werden müssen. Fast alle Pädagogen gaben an, Änderungen an der Methodik des Unterrichts vorgenommen zu haben. Kritik gab es an den Sanktionen, die das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verletzen, da im Musikunterricht kaum Infektionen nachgewiesen sind.

Trotz aller Unbill betrachteten die Lehrer das Onlineformat als einen Segen, da sie damit bis zu einem gewissen Grad ihr Einkommen sichern konnten.

Interessant innerhalb der Umfrage waren die Angaben zu den positiven Erfahrungen rund um den Online-Unterricht. Es fanden mehr Elternkontakte statt, die Eltern hatten mehr Zeit und Interesse daran, was ihre Kinder tun und konnten so in das Unterrichtsgeschehen involviert werden. Der Musik­unterricht war eine willkommene Abwechslung im Online-Alltag, denn die Schüler warteten auf die wöchentliche Zuwendung und hatten mehr Zeit zum Üben, da der Sport wegfiel. Die Lehrer gaben an, auf dem digitalen Sektor viel gelernt zu haben. Angenehm fanden die Schüler (oder auch Lehrer), dass die Fahrtwege wegfielen.

Eine gute Option ist das Online-Modell für die Zukunft, um bei Erkrankung oder andersgearteter Verhinderung am Unterricht teilnehmen zu können. Als besorgniserregend müssen die Angaben zu den Kündigungen und den damit einhergehenden Einkommenseinbußen betrachtet werden. Diese bewegten sich zwischen 0 und 100 Prozent, das heißt Mitglieder gaben ihre Selbständigkeit auf oder wechselten den Beruf, während andere in vollem Umfang weiterarbeiten konnten. Die Lehrer, die nur zum Teil unterrichten und ansonsten konzertieren, müssen auf lange Sicht Einbußen im Konzertbereich hinnehmen.

An der Umfrage beteiligten sich auch Lehrer, die Anstellungen in geringem Umfang innehaben und Kurzarbeitergeld bekommen oder ausschließlich auf Honorarbasis arbeiten und keine Ansprüche auf Ausgleichszahlungen anmelden können. Besonders schwer sind die Früherziehungsgruppen betroffen, die dauerhaft pausieren müssen. Kollegen, die vorwiegend Gruppenunterricht, sowohl instrumental als auch vokal, anbieten, mussten ihr Kursangebot streichen. Besonders fatal ist, dass Neuanmeldungen stagnieren, weil man sich auf ein Online-Angebot nicht einlassen will. Zudem stellt der zeitliche Mehraufwand des Distanzunterrichts, der auch einen vermehrten Schriftwechsel mit den Schülern erfordert, letztlich eine Einbuße dar, da dieser Aufwand nirgendwo in Rechnung gestellt werden kann. Als Gründe für Kündigungen werden Ablehnung des Online-Unterrichts, schlechte Internetverbindung, finanzielle Engpässe der Eltern (Kurzarbeitergeld oder Arbeitsverlust im kulturellen Bereich) angegeben. In einigen Fällen kann auch der Lehrer keinen Unterricht anbieten, weil er eigene Kinder zu betreuen hat.Zahlreiche ältere Musikpädagogen sind gezwungen, ihre Spareinlagen oder die Altersversorgung anzugreifen. Sie haben Existenzängste und sorgen sich noch mehr als sonst um ihr Auskommen im Alter. Eine Antragstellung innerhalb der angeschobenen Hilfsprogramme ist durch eine Verklausulierung oft nicht möglich, so dass bereitgestellte Gelder nicht abgerufen werden können.

Als Fazit der Umfrage lässt sich festhalten, dass Schüler und Lehrer auch nach einem Jahr Pandemie weder technisch noch logistisch ausreichend ausgestattet sind. Diese Unterrichtsform kann für Freiberufler, die nicht sozial abgesichert sind, existenzgefährdend sein, da es vermehrt zu Kündigungen kommt. Der immense Aufwand steht in den meisten Fällen in einem krassen Missverhältnis zum erreichbaren Erfolg. Die Präsenz ist im Instrumental- und Gesangsunterricht unabdingbar, so die Kernaussage der Umfrage. Dies ist keine überraschende Erkenntnis. Um aber möglichen erneuten Einschränkungen gezielt vorbeugen zu können, sollte auf schnellstem Wege ein Konzept zum Präsenzunterricht auch bei höheren Inzidenzwerten vorgelegt werden, um die Entscheidungsträger in den Ministerien dafür zu sensibilisieren, dass Einzelunterricht in Präsenz unter Einhaltung geforderter Hygienekonzepte gut möglich sein kann. Denn das Corona-Virus und seine Mutanten werden uns noch ein Stück weit in Schach halten.

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