Hauptbild
Kultur TM. Foto: Hufner

Kultur TM. Foto: Hufner

Banner Full-Size

Mehr Verantwortung für gesellschaftliche Grundwerte

Untertitel
Anmerkungen zur defizitären Lage unseres Bildungssystems · Von Jürgen Oberschmidt
Vorspann / Teaser

„Unsere Schulbildung, in der die Persönlichkeit in einem sozialen Kontext sich zu entwickeln beginnt, ignoriert quasi alle individuellen Eigenarten. […] Die heutigen Erziehungsinstitutionen bringen Menschen von klein auf bei, als Roboter zu leben und nicht die entscheidenden Fragen zu stellen, die ihrem Alter entsprächen. Sie impfen einem Grausamkeit und Intoleranz gegenüber jeder Abweichung ein. Schon in der Kindheit vergessen wir unsere Freiheit“ (Pussy Riot 2012, S. 121). Mit diesen Zeilen nimmt Maria Aljochina, bekannt als Mascha von Pussy Riot, in ihrer Schlusserklärung vor Gericht zum russischen Schulsystem Stellung. 

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Der dann folgende Urteilsspruch ist uns bekannt: Wegen „Rowdytum aus religiösem Hass“ wurden die Mitglieder der feministischen Punkband zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Inzwischen sind zwölf Jahre vergangen, die uns in schonungsloser Weise vor Augen geführt haben, wie dankbar wir sein müssen, in einem Land mit demokratischen Werten leben zu dürfen, wo wir nicht nur Meinungen frei äußern, sondern auch ohne Zensur oder Bedrohung künstlerisch tätig sein können. Für Pussy Riot blieb die Kunst der einzige Weg, sich gegen das System zu stellen, mit Gitarren statt mit Waffen, auch wenn sich die Aktivistinnen weniger als eine traditionelle Rockband denn als Protestbewegung verstanden, die das geschriebene Wort besser beherrschte als ihr instrumentales Hauptinstrument. Aus genau diesem Grund sind künstlerische Ausdrucksformen auch unter einen besonderen Schutz der Kunstfreiheit gestellt, die fest im Artikel 5 unseres Grundgesetzes verankert ist. 

Optimierung des Humanen

Aber wie kann es uns gelingen, diese besondere Verantwortung für unsere gesellschaftlichen Grundwerte auch in der Schule zu leben, wenn die Präambel unseres Grundgesetzes zwar die Verantwortung vor Gott und den Menschen beschwört, um dem Frieden in der Welt zu dienen, von einer Kunstfreiheit aber nicht mehr die Rede sein darf, weil die Kunst nicht mehr von allen gelebt werden kann, der Musik­unterricht nur noch in homöopathischen Dosen erteilt oder gar gänzlich abgeschafft wird? Wir leben in einem demokratischen Land, erleben zur Zeit aber eine Zentrierung der Schule und des Schulsystems auf die zu erbringenden Leistungen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften als Resultate eines evidenzbasierten Produktionsmodells, das die Bedürfnisse der eigentlichen Akteure verschwinden lässt, was längst dazu geführt hat, dass Kinder und Jugendliche nur noch als Adressaten der von außen gesteuerten Lernprozesse auftreten. Sprachen wir einst von Bildung und beschworen vollmundig eine „humane Schule“, so ist dieses Gelübde längst durch das offen zur Schau getragene Postulat der „Wirksamkeit“ ersetzt worden. Und weil die spätere Erwerbsarbeit als einziger Sinngeber eines autokratisch organisierten Systems gilt, das man früher einmal mit dem Begriff der Bildung belegt hatte, nehmen die Lernenden selbst bereits diese Rolle aktiv ein und tasten all ihr Tun nach den vermuteten Möglichkeiten der Verwertbarkeit ab. Auf diese Weise reproduziert sich das System als solches, es bestärkt die bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten und gräbt sich darüber hinaus tief in die Sozialstruktur unserer Gesellschaft, in unser berufliches, vor allem aber auch in unser privates Leben ein. Selbstoptimierungen, der Gedanke, menschliches Leben durch gezielte Eingriffe verbessern zu können, und die damit verbundenen Normierungen unserer Lebens- und Handlungspraxis, sind Teil dieser zwiespältigen und nicht mehr zu hinterfragenden Fortschrittsgeschichte. Bildung wird zum Investitionsobjekt.

Dass auf diese Weise Bildung mit dem Blick auf ihre Verwertbarkeit zu einem Investitionsobjekt verkommt, ist eine bereits oft erzählte Geschichte. Schule wird betrachtet mit einem objektiven Blick von außen und selbst die künstlerischen Schulfächer stellen sich willig in die Widersprüche dieser Kultur-PISA, um in der Schule weiterhin ihren Platz behaupten zu dürfen. Gehorsam beschäftigen sich die Künste nicht mehr mit alternativen und parallelen Welten, sondern bemühen die in ihrem Tun vermuteten Transfereffekte, werden Mittel zum Zweck und verpflichten sich den schulischen Kompetenzimperativen. Den Glauben an die Kunstfreiheit, an individuelle und kreative Zugänge, gilt es an der Schultüre abzulegen, wenn instruktive, vom Vor- und Nachmachen, vom Nennen und Benennen gespeiste Lernformen das Geschehen bestimmen, die in braunmelierten Zeiten noch als „Lehre vom Führen und Folgen“ (Joseph Müller-Blattau) bezeichnet wurden. 

Den eigenen Klang entdecken

So etwas haben wir schließlich in einem selbsterlebten Instrumentalunterricht tief eingeatmet und es kann nun in die Scheinblüten eines schulischen Gleichklangs eingebracht werden. Aber ist es nicht gerade Aufgabe der Kunst, sich gegen ein System zu stellen, um aus sich selbst heraus ein eigenes System für eine bessere Welt zu entwickeln? Entfaltet sich nicht gerade Musik in Abgrenzung zu dem, was wir Alltag nennen und sollte es daher nicht gerade im Musikunterricht erfahrbar sein, dass sie nicht Mittel zum Zweck, sondern – wie Immanuel Kant es formulierte – ein „Selbstzweck“ ist? Ist es nicht gerade dieser Selbstzweck, in dem sich bereits seit der Antike die Grundidee von Bildung formuliert? Der von Kant so benannte „Selbstzweck“ der Kunst findet sich im Grundgesetz in übergeordneter Weise als „Menschenwürde“ wieder und gilt nach wie vor als unantastbar. Für den Musikunterricht, in dem dieser Selbstzweck zum Vorschein gebracht werden sollte, gilt all dies scheinbar nicht. Dabei unterscheidet sich der Mensch nur in dieser „Selbstzweckformel“ von der Maschine: Für Kant hat nur das, was einen „Zweck an sich“ hat, nicht nur einen „relativen“, sondern einen „inneren Wert“ und das ist für ihn die „Würde“. Wo sonst, wenn nicht im künstlerischen Tun, können wir diesen inneren Wert erfahren, der uns letztlich zu uns selbst führt? Mit Blick auf eine zur Ware geschrumpfte Bildung, in die sich alle Verschiedenheiten als defizitorientierte Abstufung einer uniformierten Gleichheit eingliedern und sich auch die Wahlmöglichkeiten im Konzert der Fächer mit den damit verbundenen individuellen Entfaltungspotenzialen eingeschränkt haben, muss zumindest die Frage gestattet werden, ob sich Maria Aljochinas Beschreibungen des russischen Schulsystems nicht auch auf unser Bildungssystem treffend anwenden ließen. Wie können wir uns in solch einer normierenden Schule orientieren über die unendlichen Möglichkeiten, ein erfülltes Leben zu führen? Wie können Kinder und Jugendliche im vielstimmigen Chor der sie von außen bedrängenden Stimmen ihren eigenen und individuellen Weg finden, den dazu gehörenden Klang entdecken, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen und auf diese Weise jenes zu erfahren, was den Menschen erst zum Menschen macht? Dass es hier nicht nur um eine Fürsprache für den Kunst- und Musikunterricht gehen soll, sondern um einen grundlegenden Systemwechsel gehen muss, der von den Künsten allenfalls ausgehen mag, dürfte durch die hier lediglich metaphorische Indienstnahme der Musik deutlich geworden sein. Und auch was den Musikunterricht selbst betrifft, sind die einschränkenden Hinweise, dass Gleichklänge uns nicht automatisch zum Schwingen und Klingen bringen, bereits in Anschlag gebracht worden. Unsere auf den reinen Zweckbetrieb ausgerichtete Schule hat längst ihre Seele verkauft und damit einen hohen Preis bezahlt: Die „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) ist weit vorangeschritten und pointiert gesprochen steht hier nicht nur die Kunst, sondern auch die Würde des Menschen auf dem Spiel. Weit entfernt sind wir gerade davon, das nötige Gleichgewicht wiederherzustellen.

Regenerierendes System

In diesem geschlossenen und sich immer wieder selbst regenerierenden System herrscht immer noch der Glaube, dass es automatisch zu einem Zuwachs an Wissen und Kompetenzen kommt, wenn es uns nur gelänge, das Lernen regulieren und steuern zu können. So bleibt denn auch keine Wahl, als diesen einmal beschrittenen Weg einfach weiterzugehen. Max Weber beschrieb diese eingeschränkte Entscheidungsfreiheit als ein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“, in welches die Menschen sich „ohnmächtig“ einzufügen haben. Und wenn dann mit der nächsten PISA-Studie die uns schon gar nicht mehr irritierenden Signale einer wieder einmal defizitären Lage auftauchen, werden auch in Zukunft keine anderen Optionen gesehen, als an dem bestehenden Sprach- und Mathematikunterricht festzuhalten, um ihm dann mehr Zeit zur Verfügung zu stellen. Vielleicht sollte man den Entscheidungsträgern einmal die Lektüre Walter Benjamins ans Herz legen: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“ 

Protest des „Nutzlosen“ im Dienst der Wissenschaft

Die gesellschaftlichen und politi­schen Entwicklungen und die damit­ notwendiger Weise verbundenen Trans­formationsprozesse führen uns jeden Tag aufs Neue allzu deutlich vor Augen, dass wir uns aktiv für unsere demokratische Grundordnung einsetzen müssen und wie sehr sich gerade junge Menschen um ihre eigene Zukunft sorgen: Wenn es weiterhin gelingen soll, Demokratie und Gewaltfreiheit in Dialog und Kooperation zu leben und dieses in der Schule auch zu lehren, dann muss das Lernen hier auch demokratisch, gewaltfrei – und vor allen Dingen partnerschaftlich gestaltet werden. Gerade in der Musik öffnen sich Fluchtpotenziale aus unserer durchrationalisierten Welt, was nun wahrlich nicht heißen soll, sich dieser und ihren Rationalitäten zu verschließen. Doch wenn unsere Umgebung all ihre rätselhafte Sinnlichkeit verliert, macht sie uns zutiefst gleichgültig. Darum brauchen wir in einer Welt, in der alles nützlich sein soll, ein „l’art pour l’art-Prinzip“ als den Protest des Nutzlosen und Weg zur Innerlichkeit. Das gilt nicht nur für den Musikunterricht, alle Fächer rufen nach solchen Freiräumen für jene leidenschaftliche Hingabe, ohne die weder ein nachhaltiges Lernen noch Veränderungen des bestehenden Systems möglich sind. Dabei darf es nicht darum gehen, einzelne Fächer oder das grundlegende Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft gegeneinander auszuspielen: Wie sehr Kunst und Wissenschaft einander ergänzen und damit auch in der Schule ein sich gegenseitig stabilisierendes Korrektiv bilden müssen, lehrte uns der Geiger Yehudi Menuhin. Er hatte längst erkannt, dass die aktuell geführten Diskussionen nicht nur das Existenzrecht der Musik und des Musikunterrichts berühren, sie betreffen das Ferment der Kultur, das, was all unser Menschsein ausmacht: „Wir müssen uns der Tatsache bewußt werden, daß wir als lebendige menschliche Wesen Künstler sind. […] Als Künstler muß ich ständig neue und unumstößliche Entscheidungen treffen, sonst bin ich nur eine Setzmaschine in einer Druckerei, die auf jeden Tastendruck reagiert. Viele Probleme unserer Tage lassen sich auf eine gewisse Arroganz des Geistes und einen Mangel an Glauben zurückführen“ (Menuhin 1981, S. 33f.). Dieses Vertrauen und den Glauben an uns selbst, den es in der Schule zurückzugewinnen gilt, schenkt uns nur die Kunst.

  • Pussy Riot (2012): Pussy Riot! Ein Punkgebet für Freiheit. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Häusler. Hamburg: Nautilus Flugschrift.   
  • Menuhin, Yehudi (1981): Kunst und Wissenschaft als verwandte Begriffe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!