München - Mit dem Einstandskonzert des russischen Stardirigenten Waleri Gergijew beginnt für die Münchner Philharmoniker an diesem Donnerstag eine neue Zeitrechnung. Mehr als ein Jahr lang war das Orchester der bayerischen Landeshauptstadt ohne festen Chef, nachdem Lorin Maazel, der nach dem Krach mit Christian Thielemann die Leitung übernommen hatte, im Juli 2014 überraschend gestorben war. Jetzt soll der viel beschäftigte russische Maestro und Putin-Freund Gergijew das ein wenig verblasste Renommee der Philharmoniker wieder auf Vordermann bringen.
Gergijew eilt der Ruf voraus, wenig zu proben und oft erst im letzten Moment von irgendwo auf der Welt zu seinen Auftritten einzuschweben. Es scheint, als wolle er gleich zu Beginn dieses wenig schmeichelhafte Bild korrigieren. In seiner ersten Münchner Saison leitet er allein zwölf Konzertprogramme. Schon in den ersten zehn Tagen steht er in sechs Konzerten mit drei unterschiedlichen Programmen am Pult seines neuen Orchesters. Darunter Schwergewichte der deutsch-österreichischen und russischen Symphonik: Mahlers zweite Symphonie («Auferstehungssymphonie») zum Auftakt, dann Bruckners Vierte («Romantische») und Tschaikowskys Sechste («Pathétique»).
Danach wird man einen ersten Eindruck haben, ob die Chemie zwischen dem Orchester und dem neuen Chef stimmt. Und ob es eine richtige Entscheidung war, wieder auf einen Altstar zu setzen und nicht auf einen möglicherweisen vielversprechenden Newcomer, wie es gerade die Bamberger Symphoniker mit ihrem neuen Chef Jakub Hrusa vorgemacht haben. Dass Gergijew beileibe nicht nur internationale Routine abliefern, sondern tiefschürfende, ergreifende Musik machen kann, hat er 2012 in München mit seinem umjubelten Schostakowitsch-Zyklus unter Beweis gestellt.
Die Aufregung um Gergijews Unterstützung von Putins Krim-Annexion hat sich derweil längst gelegt. Im März 2014 war bekanntgeworden, dass der weltberühmte Künstler und langjährige Chef des St. Petersburger Mariinsky-Theaters einen öffentlichen Appell unterschrieben hatte, in dem zahlreiche russische Kulturschaffende die Ukraine-Politik ihres Präsidenten guthießen. In den Medien und im Münchner Stadtrat wurden Stimmen laut, die fragten, ob Gergijew noch der richtige Mann für die Spitze der Münchner Philharmoniker sei.
Waleri Gergijew - musikalischer Hansdampf mit Imageproblem
Waleri Gergijew ist einer der bekanntesten Dirigenten weltweit. Der langjährige Leiter des St. Petersburger Mariinsky-Theaters und neue Chef der Münchner Philharmoniker stammt aus dem Kaukasus. Er machte erstmals international auf sich aufmerksam, als er 1976 als Student des Konservatoriums im damaligen Leningrad den Berliner Herbert-von-Karajan-Dirigierwettbewerb gewann. Nach Stationen in der sowjetischen Provinz wurde er 1988 Chefdirigent und künstlerischer Leiter der damaligen Kirow-Oper. Seit 1996 ist er Intendant des wieder in Mariinsky umbenannten russischen Prestigetheaters.
Mit seinem Stammensemble gastiert Gergijew seither in der ganzen Welt, unter anderem regelmäßig im Festspielhaus Baden-Baden. 1995 bis 2008 war er zusätzlich Chefdirigent der Rotterdamer Philharmoniker; 2007 übernahm er den Chefposten beim London Symphony Orchestra, den er aber zugunsten seiner künftigen Tätigkeit als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker aufgibt. In München wird er Nachfolger des im vergangenen Jahr verstorbenen US-Maestros Lorin Maazel.
In Russland gilt der Putin-Freund und glühende Patriot als künstlerisches Aushängeschild. In dieser Rolle eckt er international immer wieder an. Als im März 2014 bekanntwurde, dass er in einem offenen Brief zusammen mit weiteren russischen Kulturschaffenden die Annexion der Krim unterstützt hatte, gab es Proteste. Auch künstlerisch ist der 62-Jährige nicht unumstritten. Für seine Interpretationen des russisch-sowjetischen Repertoires genießt Gergijew zwar großen Respekt. Andererseits wird ihm zuweilen vorgeworfen, er sei zu viel unterwegs und probe zu wenig mit seinen Ensembles.
Doch diese Kritik ist in dem Maße verstummt, wie der Ukraine-Konflikt in der öffentlichen Debatte in den Hintergrund getreten ist. Das gilt auch für Gergijews umstrittene Äußerungen über Homosexuelle, gegen die in München und an anderen Orten der Welt umgehend Aktivisten demonstriert hatten. Der Maestro sah sich genötigt, einen offenen Brief an sein Publikum zu schreiben, in dem er seine Haltung zu erklären versuchte. Ein bislang in der Musikwelt wohl einmaliger Vorgang.
Wenn der Maestro am Donnerstag in der Münchner Philharmonie den Taktstock hebt, dürfte von all dem keine Rede mehr sein. Längst stehen andere Themen wie die Griechenland- und die Flüchtlingskrise im Vordergrund. Mit dem Eröffnungskonzert ihrer neuen Saison wollen die Philharmoniker ein konkretes Zeichen für Flüchtlinge setzen und zu Spenden aufrufen. Im Oktober gibt es erstmals das von Gergijew initiierte Festival «MPHIL 360 Grad». Es soll zeigen, wie eng die deutsche und russische Musikkultur miteinander verbunden ist. Das ist Gergijews Art und Weise, sich um Ausgleich und Völkerverständigung zu bemühen - in der Sprache der Musik.