Am 25. August verstarb der finnische Komponist Pehr Henrik Nordgren im Alter von 64 Jahren an den Folgen eines seine Lebenskräfte verzehrenden Krebsleidens. Der Nordgren-Kenner Christoph Schlüren verfasste einen Nachruf für das KIZ.
Die ganze Welt wird klagen
„Können Sie im Ernst sagen, diese Welt sei eine glückliche? Das ist nicht wahr. Diese dunklen Gefühle von Mitleid, Schmerz und Klage sind die Hauptsache in meinem Leben von früher Kindheit an gewesen. Ich fühle immerzu so viele deprimierende Dinge um mich herum. Diese Dinge will ich irgendwie ausdrücken. Nichts daran kann ich erklären, es fließt durch meine Musik.“
Pehr Henrik Nordgren (1997)
Der Finne Pehr Henrik Nordgren, geboren am 19. Januar 1944 auf der Insel Åland, war einer der großen nordischen Komponisten unserer Zeit. Als ich Nordgren in den neunziger Jahren kennenlernte, war er bei uns weitgehend unbekannt. Vom ersten Moment hatte mich die dunkel oszillierende, eigentümlich zwischen versponnener Heterophonie und majestätischer Paraphonie und Monodie, zwischen archaisierender Tonalität mit machtvollen Orgelpunkten und expressiv aufgeladener Cluster-Polyphonie changierende Irregularität seiner Musik ‚gefangen genommen’. Vielen Musikern und Laien, denen ich seither seine Musik nahebringen konnte, erging es ähnlich: sie mochten sich der suggestiven Kraft seiner schattenhaften, dem Zwielicht entstiegen scheinenden Klangwelt nicht mehr entziehen, auch Komponistenkollegen wie Arvo Pärt, Peteris Vasks oder Kalevi Aho gehören zu seinen Bewunderern.
Nordgren ist immer seinen ganz eigenen Weg gegangen. Als kleiner Junge in Helsinki begeisterte er sich für Schostakowitsch, der sein Leben lang einen der zentralen Bezugspunkte bilden sollte. Eines seiner Hauptwerke, die intensiv glühende Kammeroper Der schwarze Mönch nach Tschechow von 1981, hatte auch auf Schostakowitschs Agenda gestanden, der diesen Plan jedoch nie ausgeführt hat: „Die Geschichte erzählt vom Konflikt zwischen Genie und Normalität, zwischen Schöpferischem und Nicht-Schöpferischem, von der Macht der Fantasie gegen die alltägliche Pedanterie: ‚Normal und gesund sind nur einfache Menschen.’“ Mit vierzehn Jahren begann Nordgren, Geige zu spielen, und von Anfang an spielte er seine eigene Musik: „Unendliche Melodien, ‚symphonische Dichtungen’ von 10-15 Minuten Dauer: Titel wie ‚Herkules’, ‚Penelope auf Ithaka’, ‚Odysseus und der Zyklop Polyphem’ oder ‚Skylla und Charybdis’. Ich stellte mir dabei vor, es seien Orchesterstücke: die ganze Melodie gespielt von einem große Orchester, wie in Mussorgskys ‚Baba Yaga’. Aber es war meine eigene ‚Baba Yaga’.“ Baba Yaga symbolisiert in der russischen Märchenwelt die dunkle, vernichtende Seite des Weiblichen, das ihn denn auch seither in seinen Bann gezogen hatte. Er schrieb als Autodidakt zunehmend anspruchsvollere Stücke und wurde 1965 von Joonas Kokkonen, dem großen Symphoniker und Klassiker der finnischen Moderne, als Privatschüler akzeptiert.
1967-68 schrieb Nordgren zwei ‚Euphonien’ für Orchester, die seinen Namen schlagartig zu einem Begriff in den nordischen Ländern werden ließen: „Der Titel ‚Euphonie’ [anstatt Symphonie] unterstreicht meinen Wunsch, mehr eine organische, sich ‚natürlich’ entwickelnde Konzeption zu verwirklichen als eine vorbestimmte Konstruktion. Melodielinien werden in einem Cluster-artigen, polyphonen Fluss sanglicher Figuren verwoben; mal schwellen sie an, dann werden sie filigraner und eine Melodie kann sich freischwimmen und unabhängig werden. Selbst da noch, wo keine bestimmte Melodie mehr herausgehört werden kann aus dem Gewebe, stellt sich paradoxerweise ein melodischer Eindruck ein.“ Diese Beschreibung trifft mit wenigen Ausnahmen auf sein gesamtes Schaffen zu. Indem er sich mit Juha Kangas anfreundete, einem aus der Spielmann-Tradition kommenden Geiger aus Kaustinen, dem Zentrum der finnischen Volksmusik, begannen zudem Folklore-Elemente in seiner Musik umherzugeistern, was immer wieder sehr überraschend wirkt und Teil seines Personalstils werden sollte.
Ein wichtiger Einfluss war auch György Ligeti, doch „Melodie war für mich weiterhin unverzichtbar. So folgte ich der Utopie, mit Clustern melodische Musik zu schreiben. Dabei ist das vertikale Element immer wichtiger geworden. Ich habe diese Vorstellung nie aufgegeben: melodisch-polyphone Cluster.“ Ein Schaffen im Kreuzfeuer zwischen dem Fatum der geistigen Leitgestalt Schostakowitsch und den neuen klanglichen Horizonten, wie sie Ligeti mit unnachahmlicher Meisterschaft und Kühle erschloss. Eine völlig unerwartete Welt kam hinzu: ab 1970 studierte Nordgren mehrere Jahre mit Unterbrechungen in Japan, was ihn kaum im engeren Sinne musikalisch prägte: „Das Beste, was ich in Japan lernte, war das Leben, die Haltung zum Leben.“
Wenn er, der er primär Instrumentalkomponist war, Texte vertonte, so war für ihn die Botschaft von grundlegender Bedeutung. Hier stand das Mythologische und das Ökologische im Zentrum, so im 1971 vollendeten, monumentalen Agnus Dei, in der auf eine östliche Dichtung über Armut, Hunger usw. Pamphlete über die Zerstörung der Natur folgten: „Die Kritiker nannten das Werk deshalb ‚Pollution Symphony’ – ein großer Abschnitt heißt ‚Panorama’: Da geht es konkret um Verschmutzung und Verseuchung.“ Es folgen finnische und chinesische Gedichte, die subjektiverer Natur sind, und tzum Schluss kommt das Agnus Dei. In Japan lernte Nordgren seine Frau Shinobu kennen. Er kehrte mit ihr 1973 nach Finnland zurück. Ein Sohn ist aus der Verbindung hervorgegangen. Da Juha Kangas 1972 in der Kleinstadt Kokkola das Ostrobothnian Chamber Orchestra gegründet hatte, das heute zu den weltbesten Streicherensembles zählt, zog Nordgren ins nahegelegene Kaustinen, wo er den Rest seines Lebens blieb und die Leitung des alljährlichen Kammermusikfestivals übernahm.
Aus der Liaison mit Kangas sind 22 Streicherwerke hervorgegangen – ein in seiner Fülle, Vielfalt und Intensität einmaliger Beitrag zum Repertoire, mit dessen charakteristischem Ton jedes bessere Streichorchester vertraut sein sollte. Begonnen hatte die Zusammenarbeit 1968 mit der Adaption des ostbottnischen Volkschorals ‚Die ganze Welt wird klagen’, und viele großartige Werke wie ‚Symphony for Strings’, ‚Concerto for Strings’, ‚Transe-Choral’, die mit einer Pärt-Hommage endenden ‚Chronaca’, ‚Equilibrium’, das Doppelkonzert für Bratsche und Kontrabass, Solokonzerte für Geige, Bratsche, Cello, Altsaxophon, Oboe, Horn, Trompete, Klavier usw. sind dieser künstlerischen Symbiose entsprossen. Nordgren hat acht Symphonien geschrieben, unter denen die archaisierende Sechste mit der Vertonung der vor den Vereinten Nationen verlesenen ‚Declaration of Interdependence’ (Erklärung der gegenseitigen Abhängigkeit) von David Suzuki eine Sonderstellung einnimmt – ein auf das Zusammenleben der Menschen in dieser Welt bezogenes Manifest im Sinne dank Gurdjieff der westlichen Welt überlieferten, uralten ‚Gesetzes der gegenseitigen Erhaltung’.
Diejenige Symphonie Nordgrens, die nachhaltig als Klassiker in das Repertoire der großen Orchester eingehen dürfte, ist seine Dritte, die 1997 durch die Münchner Philharmoniker unter Juha Kangas ihre deutsche Premiere erfuhr. Sie ist eine hochexpressive ‚Apotheose der unheilen Welt’ und zugleich eine extreme Verdichtung Gustav Mahler’schen ‚die ganze Welt Enthaltens’ in dissonant gleißendem, polyphon überflutendem, tragisch aufgipfelndem Furor. Im Kopfsatz dieses instrumentalen ‚Selbstportraits’ kehrt machtvoll die Musik zu Tschechows ‚Schwarzem Mönch’ wieder. Vergleichbar der Musik eines Schostakowitsch oder Allan Pettersson kann sich der Hörer der fesselnden Kraft und vibrierenden Energie dieser Musik kaum entziehen. All das ist nun Geschichte. Am 25. August um acht Uhr morgens verstarb Pehr Henrik Nordgren im Alter von 64 Jahren an den Folgen eines seine Lebenskräfte verzehrenden Krebsleidens.
Demnächst werden die Symphonien Nr. 7 und 8 sowie ‚Solemnity-Euphony’ bei Alba Records auf CD erscheinen. Juha Kangas, dem Dirigenten dieser Aufnahmen, zufolge, der Nordgren näher stand als irgendein anderer Musiker, sind die letzten zwei Streichquartette (Nr. 10 und 11) eine Art „musikalisches Testament“ Nordgrens. Vielleicht ist es ja diesen Spätwerken beschieden, als erste Nordgrens Namen in angemessener Weise um die Welt zu tragen.
Christoph Schlüren